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In der Coronavirus-Panik greifen viele Kunden zu Konserven und kaufen auf Vorrat.

© David-Wolfgang Ebener/dpa

Kochen in der Coronavirus-Krise: „Moppelkotze“ und „Schützfleisch“ – Berliner Rezepte aus dem Kalten Krieg

In manchen Märkten werden Lebensmittel knapp. Unser Autor wundert sich: Wo ist die Senatsreserve – Berlins eiserner Vorrat im Kalten Krieg? Eine Glosse.

Morgens kurz vor neun im Supermarkt, Kartontürme stehen in den Gängen, fleißige Helfer füllen die Regale nach. Gähnende Leere bei Gemüse und Obst, kaum Hygieneartikel, das Angebot an Dosensuppen stark dezimiert. Heringsfilets in Tomatensauce sind zu haben, aber zum Frühstück? „Wir warten auf Ware. Aber wann die kommt, wissen wir nicht“, sagt der Edeka-Mann. „Kommen Sie in zwei Stunden wieder.“

Wo ist die Senatsreserve? Die Älteren erinnern sich. Den Jüngeren ist es schnell erklärt: Mit der Senatsreserve hortete West-Berlin während des Kalten Krieges eine Überlebensration für die Bevölkerung. Für den Fall, dass die Halbstadt noch einmal eine Blockade wie 1948/49 durchstehen müsste, sollte der Vorrat für 180 Tage ausreichen, um zwei Millionen Menschen zu versorgen.

Von den Westalliierten angeordnet, vom Bund subventioniert, lagerte der Senat massenweise Güter des täglichen Bedarfs: Grundnahrungsmittel wie Milchpulver, Salz, Zucker, Trockenkartoffeln, dazu Medikamente, Kraftstoffe, Rohstoffe für die Industrie – vier Millionen Tonnen, verteilt auf 700 Standorte in der Stadt.

Kurzer Blick auf die Lagerbestände: 189.000 Tonnen Getreide, 44.000 Tonnen Fleisch, 11.800 Tonnen Bratfett, 96 Tonnen Senf, 35 Millionen Tonnen Kunststoffbecher (pfui!), 5000 Fahrräder (schon besser). Was noch? 10.000 Nachttöpfe (für kurze Wege), 18 Millionen Rollen Toilettenpapier – für jeden West-Berliner neun Rollen. Knapp bemessen für sechs Monate. Zur Not tut’s auch die gedruckte Zeitung.

Außerdem auf Lager: 25,8 Millionen Zigarren. Wer raucht heute noch Zigarren? Damals dachte man wohl: Wenn uns die Kommunisten schon einkesseln, wollen wir wenigstens zeigen, dass wir das bessere Zeug zu rauchen haben.

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Die Senatsreserve war teuer. Der regelmäßige Austausch der verderblichen Ware mit frischen Produkten kostete Jahr für Jahr Millionen. Vor Ablauf des Verfallsdatums wurden die Lebensmittel preisgünstig verkauft.

Es gab sogar Rezepte für Zutaten aus der Senatsreserve: Das Corned-Beef in Dosen, im Volksmund „Schütz-Fleisch“ genannt (nach dem Regierenden Bürgermeister Klaus Schütz), landete mit Kartoffeln, Gewürzgurken, Zwiebeln, grünen Bohnen und was sonst im Angebot war, im Eintopf, der so aussah, wie er hieß: Moppelkotze.

Aus Angst vor leeren Regalen in den Supermärkten kaufen viele Menschen auf Vorrat.
Aus Angst vor leeren Regalen in den Supermärkten kaufen viele Menschen auf Vorrat.

© dpa

Nach der Wiedervereinigung der Stadt wurde die Senatsreserve aufgelöst, am Ende wurde der Warenwert auf rund zwei Milliarden D-Mark geschätzt. Ein Viertel der Vorräte ging Anfang der 1990er Jahre als Hilfslieferung an die damals notleidende Bevölkerung in der Sowjetunion.

Wie so vieles, was lange genug zurückliegt, hat die Erinnerung bei nostalgisch veranlagten West-Berlinern auch den Geschmack von Moppelkotze nachträglich verfeinert. Vielleicht ist jetzt der Zeitpunkt, sie aufzufrischen. Die Zutaten dürften nun viele Berliner zu Hause haben. Ein Rezept für Moppelkotze finden Sie hier.

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