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Pascale Hugues beim Tag der offenen Tür im Verlagsgebäude vom Tagesspiegel am Askanischen Platz 3 in Berlin-Kreuzberg.

© Thilo Rückeis

Mon Berlin: Soll ich nun aufatmen, einatmen oder durchatmen?

Auf-,ein-,durch-,über-,vor-... deutsche Sätze lassen sich von kleinsten Präfixen am Verb den Sinn vorschreiben. Ein Minenfeld für Ausländer. Eine Kolumne

Man muss sich vor deutschen Verben in Acht nehmen. Erst einmal flüchten sie bis an die Satzenden, sodass man ihnen hinterher rennen muss, bevor man überhaupt begreift, wo der Satz eigentlich hin will. Es bietet sich also an, wie auf Eierschalen zu laufen, wenn man innerhalb eines deutschen Satzes voranschreitet. Dauernd muss man aufpassen, bestimmte Bedeutungspartikel einzustreuen. Besonders all die Präfixe, die auf die Schnelle vor die Verben geklebt werden, sind gut verborgene Fallen im dichten Geäst der Sätze. Für uns Ausländer, die dieser in delikaten Schichten sorgsam konstruierten Sprache fremd sind, bietet das Präfix nicht nur ausgezeichnete Möglichkeiten zum faux-pas - es kann uns auch in die tiefsten Kluften der Anstößigkeit stürzen.

Nehmen wir doch das Verb "stoßen". Eines Abends, bei einem Empfang, streckte ich, um eine gute Nachricht zu feiern, mein Glas Prosecco in die Höhe, sah jedem der Menschen um mich herum nacheinander tief in die Augen und deklamierte triumphal: "Lasst uns aufstoßen!" Ich war etwas überrascht, wie verschreckt meine sonst etwas steifen Gäste waren; wie ihre angeekelten Blicke auf meinem unschuldigen Mund klebten. Ich hatte ihnen vorgeschlagen, öffentlich und im Chor aufzustoßen, quelle horreur! Sehen Sie, wie ein kleines "auf", das man mit einem "an" verwechselt, einen diplomatischen Zwischenfall auslösen kann - und man plötzlich ganz allein da steht. Ähnliches droht beim Vermischen von "ein-" und "er-" vor dem Verb "brechen".

Unterschied zwischen ein-, auf- und durchatmen?

Vor kurzem, beim Yoga-Kurs, zerstörte der Tanz der Präfixe den Zustand himmlischen Friedens, der gerade in mich glitt. "Jetzt aufatmen!" flüsterte die Zen-Stimme der Lehrerin. Ich gerate in Panik und hektische Schnappatmung: "Auf"-"ein"-"durch"-atmen… welches ist es welches? Auf meiner Matte sitzend, die Beine zum Lotus verknotet, dekliniere ich, japsend und hyperventilierend, die möglichen Präfixe herunter wie ein Gebet am Rosenkranz. Ich schaffe es aber nicht, mich zu entscheiden und vermische alles. Und anstatt Meditation und Verinnerlichung zu üben, um mich der Banalitäten niederer weltlicher Probleme zu entledigen, rast mein Gehirn durch eine Grammatikhandbuch der deutschen Sprache: Was ist der Unterschied zwischen "auf-" und "durchatmen"? Mein Kopf rattert. Ich kriege keine Luft mehr. Das spirituelle Dahinwandern ist beendet. Keine Spur von Stressabbau hier auf der Matte.

Wo Franzosen lange Nebensätze nutzen, kleben Deutsche einfach ein Mini-Präfix an den Wortanfang, um die Bedeutung radikal zu ändern - oder auch nur leicht zu nuancieren. Die Subtilität der deutschen Sprache ist ein Labyrinth für jene, die sie nicht perfekt gemeistert haben. Schlimmer als die Präpositionen mit ihren Fällen, schlimmer als der Genus der Worte, schlimmer als die Deklinationen… der Präfix ist der Alptraum der Gymnasiasten. Und er bleibt nicht einmal sesshaft, da wo man ihn erwarten könnte. Je nach Verb kann man sie trennen oder nicht, manche sind unabhängig und manche müssen immer irgendwo drankleben. Als Eindringling kann er unauffällig, manchmal nahezu unhörbar, einen kompletten Satz umwerfen und die Bedeutung umkehren.

Lieblingspräfix: frei

Besonders erstaunlich ist dabei das Präfix "ver". "Ver-" signalisiert, dass irgendwer den falschen Weg eingeschlagen oder irgendwo falsch gerechnet hat. Sich verlaufen, sich verrechnen… welche Kraft dieses unscheinbare Wörtchen hat. Ein Vokal und zwei Konsonanten der Schande.

Mein Lieblingspräfix ist eindeutig "frei". Es heftet sich gern an Nomen. Ich weiß, dass es nicht besonders originell ist, aber: Welche Unabhängigkeit, welchen lebensbejahenden Luftstoß, welchen Elan in Richtung Großes Ganzes es entwickelt, wenn man "frei" an -bad, -beruflich oder -körperkultur hängt. Freitod übermittelt so viel besser das Gefühl der letzten Freiheit als Suizid - die Freiheit, sich entscheiden zu können, wann man sein Leben beenden möchte. Freidenker ist ohne Zweifel eines der schönsten Wörter der deutschen Sprache.

Aus dem Französischen übersetzt von Fabian Federl

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