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Wo das Virus wütet. Eine Studie des Senats zeigt Zusammenhänge zwischen lokalen Inzidenzen und Lebensbedingungen.

©  Bernd von Jutrczenka / dpa

Mehr Infektionen in Einwanderervierteln: Warum Corona Menschen mit Migrationshintergrund häufiger trifft

Forschung und Klinikalltag zeigen: Covid-19-Erkrankungen und ihr Verlauf haben teilweise mit der Herkunft zu tun. Die Gründe dafür sind vielfältig.

Es war der 5. Juni 2020, und nachdem die ersten Fälle bekannt geworden waren, war es eigentlich schon zu spät. Erst einige wenige Kinder, später mehrere Dutzend Erwachsene und schließlich große Teile der Bewohner mehrerer Häuser in Neukölln waren von einem der größten Corona-Ausbrüche in Berlin überhaupt betroffen.

Weil in den schließlich unter Quarantäne gestellten Häusern zahlreiche Menschen mit Migrationsgeschichte, viele aus Rumänien, leben, sahen sich nicht wenige in ihren Vorurteilen bestätigt: „Die Ausländer“ sind schuld, halten sich nicht an die Regeln und stecken sich deshalb gegenseitig an.

Nahrung für diese vor allem in rechtsoffenen Kreisen verbreitete These lieferte am Mittwoch ein Bericht der „Bild“. Sie zitierte Lothar Wieler, Chef des Robert-Koch-Instituts (RKI), mit den Worten „das ist ein Tabu“. Gesagt haben soll Wieler das Mitte Februar in einer internen Runde mit Intensivmedizinern aus der gesamten Republik.

Zuvor hätten diese von dem übermäßig hohen Anteil von Menschen mit Migrationsgeschichte unter intensivmedizinisch behandelten Coronapatienten berichtet. Wieler selbst bestätigte die Aussagen indirekt und sprach von „Überlegungen“ statt „abschließenden Feststellungen“.

In Berliner Kliniken wurde am Mittwoch rege über das Statement des RKI-Chefs diskutiert. Von einzelnen Stationen der Charité, der Vivantes-Kliniken und kirchlicher Krankenhäuser berichten Pflegekräfte und Ärzte, dass die Aussagen – grob vereinfacht – zuträfen.

Studie: Mehr Corona-Infektionen in Einwanderervierteln

Insbesondere Patienten, meist seien es Männer, aus „Großfamilien“ seien wegen Covid-19 in Behandlung. Oft sprächen sie Arabisch, auch Türkisch oder Serbokroatisch. Ab und zu habe es Streit mit Angehörigen gegeben, die sich nicht mit dem Besuchsverbot abfinden wollten, berichten Vivantes-Pflegekräfte.

Allerdings, so sagen die selben Klinikmitarbeiter, gebe es Coronafälle in der gesamten Bevölkerung. Tendenziell seien schwere Verläufe bei jenen Patienten häufiger, die aus „eher bescheidenen Verhältnissen“ kommen, wie es eine Vivantes-Medizinerin ausdrückte.

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Zahlen, die diesen Zusammenhang belegen, hatte der Senat vor weniger als vier Wochen selbst veröffentlicht. Das Ergebnis einer Studie zur Beeinflussung des Infektionsgeschehens durch Faktoren wie Einkommen, Wohnstandard und Herkunft: „Je höher der Anteil der Arbeitslosen beziehungsweise Transferbeziehenden in den Bezirken ist, desto höher ist die Covid-19-Inzidenz.“

Zudem sei festzustellen, dass Bezirke, die „dichter besiedelt sind und in denen weniger Frei- und Erholungsfläche“ zur Verfügung stehen, „signifikant stärker von der Covid-19-Epidemie betroffen sind“.

Und auch zur Wirkung des Faktors Migrationsgeschichte auf das Infektionsgeschehen traf die Studie eine Aussage: Die Covid-19-Inzidenz sei „positiv assoziiert“ mit dem Anteil der Einwohner mit Einwanderungsgeschichte sowie mit dem Anteil der Nicht-EU-Ausländer, erklärte die Gesundheitsverwaltung.

Will sagen: Die Infektionsraten sind in Einwanderervierteln deutlich höher. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam eine umfangreiche Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Einwanderer-Familien sind demnach eher einkommensschwach, leben häufiger auf engem Raum und arbeiten oft in Jobs, in denen das Abstandhalten schwieriger ist, hieß es darin.

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Die europaweite Studie kam zu dem Ergebnis, dass das Infektionsrisiko von Menschen mit Migrationshintergrund mindestens doppelt so hoch wie bei der alteingesessenen Bevölkerung ist – auch weil Zugewanderte einen großen Teil des medizinischen Fach- und Pflegepersonals stellen und dem Virus somit an vorderster Front ausgeliefert sind.

Schlüsse daraus, vor allem hinsichtlich eines erhöhten Informations- und Unterstützungsbedarfs, hat der Senat zumindest theoretisch gezogen. Lang ist die Liste der von Senatskanzlei, Sozialverwaltung sowie der Berliner Integrationsbeauftragten Katarina Niewiedzial ergriffenen Maßnahmen.

Die vom Senat versprochenen Corona-Lotsen gibt es nicht

Demzufolge informieren Senat und Niewiedzial seit März 2020 „ständig und mehrsprachig“ zu den aktuellen Maßnahmen der Pandemiebekämpfung. Sämtliche Verordnungen würden in fünf Fremdsprachen angeboten, die Liste der am häufigsten gestellten Fragen rund um das Coronavirus ständig angepasst und in drei Sprachen zuzüglich Leichter Sprache und Gebärdensprache übersetzt.

Auf der Seite der Integrationsbeauftragten habe eine Task Force in bis zu 14 Sprachen Informationen, Beiträge und Podcasts zu Corona, Hygienemaßnahmen, zum Schutz oder zu Verordnungen erstellt und veröffentlicht.

Hinzu kommen mehrere Podcasts, die unter anderem das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) für die Bewohner von Gemeinschaftsunterkünften produziert hat. In acht Sprachen veröffentlicht, wurden diese auch in anderen Bundesländern verwendet und, unterstützt durch Twitter und Facebook, zehntausendfach abgerufen. Offenbar mit Erfolg. Wie Sascha Langenbach, Sprecher des LAF, dem Tagesspiegel am Donnerstag erklärte, traten bislang unter den 18.500 in Gemeinschaftsunterkünften untergebrachten Menschen vier coronabedingte Todesfälle auf.

Die Online-Angebote der Senatsverwaltungen dagegen dürften innerhalb der Community eher kleine Reichweiten erzielt haben.

Unverständnis, vor allem in den Bezirken, löst in dem Zusammenhang die Tatsache aus, dass von rund 100 geplanten und vom Senat beschlossenen „Corona-Lotsen“ bislang nichts zu sehen ist. Zu deren Aufgaben sollte unter anderem das „Aufsuchen und Ansprechen von besonderen Zielgruppen“ gehören.

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Im Oktober 2020 beschlossen, wartet die Maßnahme weiter auf ihre Umsetzung. Einem Sprecher der zuständigen Sozialverwaltung zufolge soll sie „kurzfristig beginnen“. Einen Zeitpunkt nennt er nicht.

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Das Bezirksamt Neukölln, aufgeschreckt durch den Ausbruch im Juni, wurde selbst aktiv. Im Gesundheitsamt des Bezirks gibt es ein multilinguales Team, das in enger Zusammenarbeit mit Moscheen oder anderen Religionsgemeinschaften die Bevölkerung berät.

Hochschullehrerin "fassungslos" über Aussagen in "Bild"

Beatrice Moreno, Ärztin und Hochschullehrerin im Bereich Öffentliches Gesundheitswesen an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin, zeigte sich "fassungslos" ob der grobschlächtigen und ihren eigenen Recherchen zufolge unzutreffenden Aussagen über das angeblich deutlich höhere Infektionsgeschehen in migrantischen Communities. "Die Herkunft spielt bei der Prävention, Nachverfolgung und bei der Behandlung dieser schrecklichen Krankheit keine Rolle", erklärt Moreno in einer dem Tagesspiegel vorliegenden schriftlichen Stellungnahme.

Nicht die Herkunft, sondern soziale Faktoren seien ursächlich dafür, dass sich Menschen mit Migrationsgeschichte im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen häufiger anstecken. "Denn nicht der Migrationshintergrund per se wäre ein Risikofaktor, sondern definierte Lebensbedingungen, wie etwa beengte Lebensräume oder fehlende Möglichkeiten der Home-Office-Tätigkeit", erklärt Moreno. Die von der "Bild" zitierten Aussagen der Intensivmediziner nennt sie "völlig unwissenschaftlich" und kritisiert: Beiträge wie jener seien "weder hilfreich noch von wissenschaftlichem Wert."

Videos warnen vor Verschwörungstheorien

Das Bezirksamt Neukölln wiederum beauftragte im Herbst 2020 einen freien Träger damit, aktiv in die Communitys hineinzuwirken. Ein sechsköpfiges Team wurde aufgestellt, bestehend aus Menschen mit Migrationsgeschichte und gemeinsam fähig, in 13 Sprachen zu kommunizieren. Diese gehen aktiv in die bestehenden Netzwerke hinein, leisten präventive Beratung für den Fall eines Corona-Verdachts oder bei tatsächlichen Infektionen.

Mitglieder des Teams sind seitdem bei regelmäßig stattfindenden Wochenmärkten vertreten, verteilen Info-Material, dienen als Ansprechpartner.

Durch den regelmäßigen Austausch zwischen Träger und Bezirk könnten Bedarfe angepasst, neue Ideen entwickelt werden, erklärt der Sprecher weiter. Eine zuletzt vom Bezirk initiierte Videoreihe als Werbung für Corona-Schutzimpfungen wurde so initiiert.

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Inzwischen sind die Aufklärungsvideos, die unter anderem vor Verschwörungstheorien rund um das Virus und die Impfungen warnen sollen, auf der Seite des Bezirksamtes sowie auf Youtube abrufbar – wenn auch mit bislang geringen Zugriffszahlen.

Wie nötig diese Kampagnen sind, zeigen Berichte von Migranten-Verbänden. Neben den auch in anderen Bevölkerungsgruppen vorhandenen Zweifeln an der Gefahr des Virus kursieren dort ebenfalls Erzählungen, die die Impfbereitschaft unter den Mitgliedern der Communitys senken könnten.

Eine dieser Theorien lautet, dass Frauen aufgrund der Impfung ihre Fruchtbarkeit verlieren und keine Kinder mehr gebären könnten. Ohne Kenntnis ihres Ursprungs verbreiten sich solche Erzählungen schnell – vor allem unter Frauen. Sie senken die Impfbereitschaft dort, wo sie am wichtigsten wäre: bei den Ärmsten und Betroffensten.

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