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Die Göttin der Gerechtigkeit: Justitia.

© Imago

Ordnung und ihre Widrigkeiten: Mehr Gesetzlosigkeit wagen!

In Berlin gelten 470 Landesgesetze – und eine Menge Verordnungen. Viele erwecken den Anschein der Gängelung. Was passiert, wenn man sich nicht an jede Regel hält? Ein Selbstversuch – und ein Plädoyer für mehr Gelassenheit.

Beginnen wir bei Bertolt Brecht. Den Schriftsteller verband jahrelang ein enges und damit problematisches Verhältnis zur Führung der DDR. Einer Staatsmacht also, die die Autonomie ihrer Bürger missachtete und ihre persönlichen Freiheiten systematisch verletzte. Zumindest aber als Lyriker blieb Brecht ein Kämpfer für die Freiheit und gegen Bevormundung. „In Erwägung unserer Schwäche machtet ihr Gesetze, die uns knechten soll'n“, dichtete er einmal. Und machte gleich mit dem nächsten Atemzug deutlich, dass Vorschriften nicht unbedingt dazu gemacht sind, auch sämtlich eingehalten zu werden: „Die Gesetze seien künftig nicht beachtet, in Erwägung, dass wir nicht mehr Knecht sein woll'n“.

Der ostdeutsche Unrechtsstaat und auch der große deutsche Dramatiker sind längst Geschichte. Das Verhältnis aber zwischen Bürger und Staat, zwischen Rechtssubjekt und Gesetz, ist auch im zeitgenössischen Deutschland ein schwieriges. Die überwältigende Mehrheit der deutschen Gesetze stellt zwar tatsächlich sicher, was das Grundgesetz in Aussicht stellt: ein Leben in Würde. Aber wer schon mal einen Nachmittag lang mit dem Steuerrecht zugebracht hat, dürfte zum Schluss kommen, dass manche deutsche Gesetze vor allem deshalb verabschiedet werden, um die Bürger zu quälen.

Und nirgendwo sonst ist die Qual größer als in der deutschen Hauptstadt. Alles in allem zählt die Senatsverwaltung für Justiz 470 Gesetze auf Landesebene – zuzüglich zu den Bundesgesetzen, denen die Berliner auch noch unterworfen sind. Zum Vergleich: Der Freistaat Bayern zählt zwar fast viermal so viele Einwohner wie die Hauptstadt, kommt aber lediglich auf 235 Landesgesetze.

Doch es ist nicht nur die schiere Anzahl von Gesetzen, die den Hauptstädtern zu denken geben sollte – denn ein Gesetz ist per se ja noch nichts unanständiges. Es ist vor allem das Menschenbild, das den Berliner Gesetzen zugrunde liegt. Nehmen wir den jüngst veröffentlichten Katalog der Ordnungswidrigkeiten: Auf 25 langen Seiten hält das Dokument sämtliche Verstöße fest, die der Senat offensichtlich mit einem Bußgeld für bestrafenswert wähnt. Die Lektüre lässt nichts Gutes erahnen: Der Gesetzgeber erkennt offenbar in seinen Bürgern ein Wesen, das mit dem moralischen Gespür eines ausgewachsenen Fußball-Hooligans ausgestattet ist – und dem Intellekt einer Dose Ravioli.

Am Grab des Dichters

Sie glauben mir nicht? Dann versuchen Sie mal nach einem langen Arbeitstag Freiheitslyriker Bertolt Brecht zu gedenken – beim Versuch dabei werden Sie sich gleich mehrfach strafbar machen. So zumindest ist es mir ergangen.

Als ich vergangenen Freitag gegen 21 Uhr den Haupteingang des Dorotheenstädtischer Friedhofs erreichte, waren die Schlösser bereits verriegelt. Mir blieb daher nichts anderes übrig, als die Friedhofsmauer kletternd zu überwinden – um anschließend einen Blumenstrauß und eine Grabkerze an der letzten Ruhestätte des Dramatikers niederzulegen. Eine ehrfurchtsvolle Geste zu einer – zugegeben – ungewöhnlichen Zeit. Das Berliner „Friedhofsgesetz“ aber will darin nur eines erkennen: zwei Gesetzesbrüche.

Auf dem Dorotheenstaedtischen Friedhof befindet sich das Grab von Bertolt Brecht und seiner Freundin Helene Weigel.
Auf dem Dorotheenstaedtischen Friedhof befindet sich das Grab von Bertolt Brecht und seiner Freundin Helene Weigel.

© Doris Spiekermann-Klaas

Denn einerseits verstieß ich mit meinem Aufenthalt auf einem Friedhof außerhalb der Besuchszeit gegen Paragraf 4 des Friedhofgesetzes (Bußgeld: 20 Euro). Andererseits hatte ich mit dem Aufstellen des Grabeslichtes gegen Paragraf 9 verstoßen, weil die Kerze mit einer roten Kunststoffhülle ummantelt war, das Gesetz aber das „Belassen von nicht kompostierbaren Materialien auf einem Friedhof“ untersagt (Bußgeld: ebenfalls 20 Euro).

Hätte mich also ein Gesetzeshüter zu diesem Zeitpunkt am Brecht-Grab erwischt, wäre es ein teurer Abend geworden. Der Konjunktiv aber deutet es bereits an: erwischt wurde ich nicht. Denn natürlich haben die Damen und Herren aus dem Ordnungsamt Besseres zu tun als spätabendliche Grabbesuche zu verhindern. Überhaupt: Wer kommt schon auf den Gedanken, einen kühlen Novemberabend auf dunklen Friedhöfen zu verbringen? Die Antwort: niemand – vom Gesetzgeber anscheinend abgesehen. Was wiederum bedeutet, dass letzteren ein tiefes Misstrauen plagen muss, was die moralische Integrität seines Souveräns angeht.

Dass es sich beim Friedhofsgesetz nicht um einen bizarren Einzelfall handelt, sondern Politik in Berlin häufig in der Annahme gemacht wird, man müsse den Bürger vor seiner eigenen Sittenlosigkeit schützen, beweist ein Blick in den Koalitionsvertrag der Senatsparteien. „In der aktuellen Ausschreibung von Werberechten des Landes Berlin wird der Ausschluss von sexistischer Werbung und diskriminierenden Inhalten eine harte Vergabebedingung“, heißt es darin. Soweit, so gut: Eigentum verpflichtet nicht nur, schon klar, es verschafft dem Eigentümer selbstverständlich auch das Privileg, moralische Bedingung für den Umgang zu diktieren.

Dem Senat geht das aber noch nicht weit genug. „Auf privaten Werbeflächen wird die Koalition diskriminierende Werbung durch Einrichtung eines Expert*innengremiums prüfen und verhindern“, heißt es weiter im Koalitionsvertrag. Nun gibt es viele gute Gründe, misogyne, sexistische Werbung zu verachten. Es gibt allerdings keinen einzigen guten Grund anzunehmen, dass der Senat beim Thema Sexismus eine moralisch Institution wäre. Wie sonst ist zu erklären, dass eines der größten öffentlichen Unternehmen der Stadt, die BVG, im vergangenen Jahr mit zweideutigen Sprüchen wie: „Du musst deine Möpse nicht verstecken“, um Fahrgäste warb?

Kleinlich, piefig und provinziell

Doch der Gesetzgeber unterstellt Letzterem nicht nur moralische Defizite; in jedem Berliner Bürger scheint er auch ein potenzielles Risiko für die öffentliche Sicherheit auszumachen. Nehmen wir Paragraf 29 des Berliner Landesfischereigesetzes, der den Bürgern versagt, was ich am vergangenen Sonnabend tat: mit einem „fangfertigen Fischereigerät“ über den Kurfürstendamm zu spazieren (oder über jede andere Berliner Straße; Bußgeld, in jedem Fall: 10 Euro).

Zugegeben, ich kam mir ein wenig kapriziös vor, als ich mit der Angel über der Schulter an den Schaufenstern von Hermès, Chanel und Gucci vorbei schlenderte – und nicht einmal einen Angelschein mit mir trug (ein weiterer Verstoß, diesmal gegen Paragraf 14. Bußgeld: 10 Euro). Von dem ein oder anderen irritierten Blick abgesehen blieb die Reaktion der Passanten verhalten. Niemand schien sich des Verletzungsrisikos bewusst zu sein, dass der Gesetzgeber ganz offensichtlich in meinem ungesicherten Fischereigerät vermutet – und mit der Strafandrohung abzuwenden sucht.

Der Kurfürstendamm in Berlin-Charlottenburg.
Der Kurfürstendamm in Berlin-Charlottenburg.

© Thilo Rückeis

Wie kleine Kinder behandelt Berlin seine Bürger noch mit vielen anderen Gesetzen. Wer etwa die „Allgemeinheit“ mit „kleinen Gegenständen“ bewirft, muss mit einem Strafgeld von 20 Euro rechnen. Wer hingegen mit mehr als vier Hunden gleichzeitig Gassi geht, muss sogar 35 Euro berappen. Und einem Wirt, der seinen Gästen Biergläser mit Lippenstiftspuren vorsetzt, droht ein Bußgeld von 25 Euro. Bis ins letzte Detail versuchen die Gesetze Berlins das Großstadtleben zu durchdringen, Risiken abzuwenden und drohenden Schaden zu verhindern. Doch nicht weltstädtisch, au contraire!, kleinlich, piefig und provinziell wirkt dieser legalistische Versuch der Risikominimierung.

Manchmal sogar regelrecht unbarmherzig: So verbietet die „Eisflächenverordnung“ (ja, die gibt es wirklich) das Befahren von Eis mit Fahrzeugen wie Fahrrädern oder Handwagen. Man stelle sich den Bürger vor, der zunächst töricht genug war, mit einem „Fahrzeug“ aufs dünne Spree-Eis zu steigen um daraufhin ins kalte Wasser einzubrechen. Statt den bedauernswerten Dummkopf am Ufer nun aber mit einem Handtuch und einem Schluck Rum vor dem Kältetod zu retten, sieht die Eisflächenverordnung vor, ihn zusätzlich noch mit einem Strafzettel in Höhe von 30 Euro zu demütigen. Gesetzgeber dieser Stadt, ist das eure Vorstellung von Menschlichkeit?

Was bleibt? Potsdam!

Mein letzter Gesetzesbruch war zugleich auch mein bequemster: Ich beging ihn von der Couch aus – liegend. Im Oktober nämlich überließ ich Jens T. für eine Nacht mein Bett und zog ins Wohnzimmer. Der Softwareentwickler aus Stuttgart hatte einen Termin mit Kunden vereinbart und zog statt eines Hotelaufenthalts eine private Unterkunft vor. „Ich buche meine Zimmer grundsätzlich auf Airbnb“, sagte er, „als Selbstständiger muss ich auf die Kosten achten.“

Dass Menschen ihre eigene Wohnung allerdings mit anderen teilen, hat der Berliner Senat, Sie ahnen es bereits, verboten. Und will damit verhindern, dass Mietwohnungen zu Ferienwohnungen umfunktioniert werden und die Mieten damit noch weiter steigen. Kleiner Realitätscheck: Das Gesetz gilt seit 2014 – hat sich seither die Situation am Wohnungsmarkt entspannt? Eben. Dennoch verteidigt der Senat das (auch wegen fehlender Kontrollen kaum wirksame) Gesetz und zeigt bei der Umsetzung Härte: Im Internet bietet die Stadtverwaltung ein Formular an, in dem spitzelnde Bürger ihre gesetzesbrecherischen Nachbarn verpfeifen können.

Moralismus, Risikoscheue und eine tiefsitzende Furcht vor Veränderung: Die Gesetze der Hauptstadt skizzieren ein trauriges Bild von Berlin. Wenig ist darin zu erkennen von der Toleranz und Offenheit, die Berlin so liebenswert machen. Dabei ist es doch gerade diese Laissez-Faire-Stimmung, die jedes Jahr tausende neue Bewohner anzieht.

Oder um es mit einem anderen deutschen Dichter zu sagen: In dieser Stadt ist man Mensch, hier darf man sein. Dieses Menschsein aber gibt es, das stimmt schon, nur zu einem gewissen Preis: Berlin ist bisweilen gefährlich, schmutzig und nicht selten völlig unerträglich. Keine Verordnung der Welt wird das ändern können. Aber wem das nicht passt, dem bleibt ja noch immer Potsdam.

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