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Berlin: Lothar Ritter (Geb. 1933)

„Wenn das erste Kind kommt, hör ich auf“

Lothar Ritter steht mit seiner Familie an der Bushaltestelle. Alles an ihnen ist schwarz. Die Gesichter, die Hände, die Hosen, die Decke, mit der das Kind im Wagen zugedeckt ist. Der Bus hält, der Busfahrer neigt seinen Oberkörper zur Seite und bellt durch die geöffnete Tür: „So verdreckt nehm ick Sie uff keen’ Fall mit.“ Schließt die Tür, fährt weiter.

Auf dem Kohlenhof in Wedding gab es kein Wasser, 16 Jahre lang, man konnte sich dort nicht waschen. Wer auf die Toilette musste, ging in die Büsche oder zur Tankstelle gegenüber.

1963 hatten Lothar und Helga Ritter den Betrieb übernommen. Helga saß im Büro und machte die Rechnungen. Lothar fuhr die Kohlen aus, schleppte sie in Keller und Wohnungen, schüttete sie, stapelte sie, erzählte lustige Anekdoten von seinen Söhnen und steckte das Trink- und Treppengeld in seine Hosentasche.

Dann ging er in die Kneipe, holte das Geld aus der Tasche und legte es auf den Tresen, für ein Bier, fürs zweite und fürs dritte, und dann noch ein paar Schnäpse. Der Kohlenstaub kroch ja nicht nur in die Kleider, er klebte auch in der Kehle und musste runtergespült werden. Lothar kannte dieses Gefühl von früher, sieben Jahre lang war er Kumpel im Ruhrpott gewesen, hatte mit den anderen nach der Schicht nicht nur Wasser getrunken. Sonderschichten belohnte der Zechenbesitzer mit einer Flasche Schnaps.

Er hatte sich an den Alkohol gewöhnt, trank, weil es sich gut anfühlte, mit Leuten zu reden und dabei ein bisschen benebelt zu sein, nicht, um Probleme im Rausch zu ersticken.

Er hatte gar keinen Grund dazu. Sein Vater hatte erst einen kleinen Obst- und Gemüseladen und später ein Eiscafé betrieben, seine Schwestern hatten sich immer um ihn gekümmert. Er lernte Bonbonkocher und verkaufte Heringe. Auch wenn das alles kein Vermögen einbrachte und er Berlin in Richtung Ruhrgebiet verließ, war er nicht unzufrieden. Man genehmigte sich eben einen, ein richtiger Mann verträgt schon was.

Die Probleme kamen mit dem Trinken. Vom Bergwerk wechselte Lothar in eine Gießerei, aus der man ihn entließ, weil er ständig nach Alkohol roch. Er kehrte zurück nach Berlin und fand eine Stellung als Heizer in der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik. Er sah dort die Alkoholiker, die zu jener Zeit noch mit den Verrückten zusammen behandelt wurden. Und ging weiter in die Kneipe. Er tanzte ab und an, am liebsten im „Swinemünder Gesellschaftshaus“ in Wedding, wo er Helga unter den anderen Mädchen entdeckte. „Dit bisschen Alkohol gewöhnste ihm schon ab“, dachte sie. Der Kohlenhof lief gut, Lothar machte seinen Führerschein, wurde von der Polizei nie abgefangen. An der Bushaltestelle musste niemand mehr warten.

„Wenn das erste Kind kommt, hör ich auf“, hatte er gesagt und weitergetrunken. „Wenn das zweite Kind da ist, ich schwör’s … “, sagte er und trug das Geld wieder in die Kneipe. Er fing an, sich vor sich selbst zu ekeln. Er brach zusammen.

Dann sah er an einer Litfaßsäule eine Telefonnummer. Die „Guttempler“ hörten sich seine Geschichte an. Sie kamen zu ihm nach Hause. Sie sprachen mit ihm. Sie sprachen mit Helga. Sie schlugen ihm vor, als Suchthelfer zu arbeiten, anderen Trinkern von der eigenen Abhängigkeit zu erzählen.

Alkoholismus war 1952 von der WHO als Krankheit anerkannt worden, 1968 vom Bundessozialgericht. Aber Entzugskliniken gab es noch lange nicht in Deutschland.

Lothar rettete sich, indem er anderen half. Mit 33 war er trocken, einen Rückfall hatte er nie. Die entzweigebrochene Familie fügte sich wieder zusammen. „Abstinenz ist ein Geschenk“, sagt Helga, die ihren Mann jeden Mittwoch zu den „Guttemplern“ begleitete, über 40 Jahre. „Ohne den Alkohol hätte ich nie all diese wertvollen Menschen kennengelernt.“

1983 wurde Lothar von der „B. Z.“ zum „Berliner der Woche“ gemacht. „Eine Bankiersfrau aus Dahlem“, erzählte er im Interview, „habe ich mit einem Blumenstrauß zu Hause abgeholt. Ich fragte sie, ob sie mit mir über ihre Ängste und Probleme sprechen möchte. Sie ist seit zehn Jahren trocken.“ 2005 erhielt er die Goldene Ehrennadel des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes.

Auch das Geschäft lief blendend. Da mehr und mehr Zentralheizungen in den Wohnungen installiert wurden, boten die Ritters zusätzlich Torf, Dünger und Pflanzen an. Anfangs schrieb Helga Werbeanzeigen und verteilte sie mit den Kindern in den Schrebergärten, die Laubenpieper standen Schlange. 2007 vergrößerten sie sich auf einem Gelände in der Pankower Allee. Sie reisten nach Thailand, Indien und Marokko.

Zu ihrer goldenen Hochzeit bestiegen sie ein Kreuzfahrtschiff nach Mexiko. Helga hatte ein seltsames Gefühl. Zurück nahmen sie das Flugzeug. Sie mussten stundenlang auf den Abflug warten, die Luft in der Maschine war nicht gut. In 11 000 Meter Höhe, eine halbe Stunde vor der Landung, kollabierte Lothar.

In Berlin fanden zwei Trauerfeiern statt. Zur ersten kam die Familie, zur zweiten mehr als zweihundert Guttempler. Tatjana Wulfert

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