zum Hauptinhalt

Berlin: Lisa Wiesler (Geb. 1933)

„Nicht oft genug war mir bewusst, dass ich fast glücklich war“

Manche, die an ihre Tür klopften, konnten sich eigentlich keinen Anwalt leisten. Doch für Lisa Wiesler durfte Gerechtigkeit keine Frage des Geldes sein. Sie fühlte sich denen verpflichtet, die, wie sie es sagte, „im Lebenskampf keine Sieger waren.“ Gegen das alltägliche Unrecht ging sie nicht nur als Anwältin an: Fast 30 Jahre lang engagierte sie sich in der SPD Wilmersdorf, wo sie sehr deutlich ihre linken Positionen vertrat.

Dabei hatte sie gelernt, Rückschläge mit Gelassenheit zu nehmen. So erzählte sie mit derselben Beiläufigkeit von den Enttäuschungen wie von den Erfolgen, während sie gemächlich ihr Fahrrad nach Hause schob. Eine bunte Sammlung von Schlössern baumelte am Korb auf dem Gepäckträger, weil sie die dazugehörigen Schlüssel, einen nach dem anderen, verbummelt hatte, wenn sie mit den Gedanken mal wieder ganz woanders war.

„Du schaust so hart“, hatte Lisas Mutter oft geseufzt, wenn diese ihre Gefühle nicht nach außen tragen wollte oder konnte. Erst mit ihrer eigenen Tochter sollte sie eine Verbundenheit finden, die sich ohne Küsse und butterweiche Worte verstand.

Lisa, das Arbeiterkind, hatte Spaß am Lernen; nach dem Abitur in Freiburg schrieb sie sich für ein Jurastudium ein. Die Beziehung zu einem Kommilitonen währte nur kurz und stellte doch ihr Leben auf den Kopf. Anfang 20, schwanger und allein, ertrug Lisa Tuscheleien und abschätzige Blicke. „Wir zwei gegen den Rest der Welt“, so beschrieb sie später ihr Gefühl, als sie ihre Tochter Barbara zum ersten Mal im Arm hielt. Weiter schrieb sie: „Keine Aggressivität, sondern Schutz und Trutz der Schwachen, der Beginn einer Klammerung, die gefährlich ist wie alles Süße.“

Der Antrieb, auf eigenen Beinen zu stehen, war nun umso größer. Mit der Hilfe ihrer Mutter, die sich mit Freude um das Enkelkind kümmerte, schloss Lisa Studium und Promotion ab, um dann mit allen beiden, Tochter und Mutter, nach Berlin zu ziehen.

Und auch hier musste sich die ledige Mutter immer wieder rechtfertigen. Und beurteilte die frühen Ehen ihrer Freundinnen selbst skeptisch: „Ihr Glück erschien mir ebenso begrenzt wie das meine.“ Zu viele Frauen hatten im Laufe der Jahre die Scherben ihrer Ehe auf Lisas Anwaltsschreibtisch ausgebreitet. Der eine wichtige Mensch in Lisas Leben war ihre Tochter. Mit ihr diskutierte sie später über Sartres Existenzialismus, besuchte Sprachkurse, reiste nach Frankreich und Italien: „Das war das Schönste, was mir das Leben geschenkt hat, schöner als Verliebtheit, beglückender als ein Lottogewinn: dem Kind ein Stück Welt zu zeigen und mit ihm etwas Neues zu entdecken.“

Als Barbara jung heiratete und selbst zwei Töchter bekam, zog Lisa in die nächste Querstraße, so dass sich die beiden jederzeit zu einem Stück Kuchen oder einem Glas Wein auf dem Balkon treffen und die Weltpolitik oder den letzten „Tatort“ besprechen konnten. Mit Franz-Josef war nun spät auch ein Gefährte in Lisas Leben getreten.

Später schrieb Lisa über diese Zeit: „Manchmal, nicht oft genug, war mir bewusst, dass ich fast glücklich war. Zu oft war die Empfindung von lässlicher Alltäglichkeit überlagert.“

Mit einem Telefonanruf kann alles vorbei sein. Barbara lebt nicht mehr.

Freunde bewunderten Lisa, wie gefasst sie nach dem Unfall Beileidskarten entgegennahm und Hände schüttelte. Sie fühlte sich unendlich weit entfernt von dieser Welt, die sich weiterdrehte, als sei nichts geschehen. An ihrer Schreibmaschine tippte sie sich den Schmerz, die Hilflosigkeit, die Fragen von der Seele. Dem Papier konnte sie sich besser anvertrauen als den Menschen. Bald traute sie sich kaum noch, in Gesellschaft über ihre Tochter zu sprechen, aus Angst vor dem betretenen Schweigen, das folgen würde. So seufzte sie nur still in sich hinein, wenn andere Mütter über ihre Kinder sprachen.

Trost und Rat suchte sie in der Literatur. Das große Bücherregal im Wohnzimmer bestückte sie bald in zweiter und in dritter Reihe. Nächtelang las sie, und was sie dabei lernte, teilte sie mit der Frauenliteraturgruppe, die sie über 20 Jahre lang leitete.

Das Leben ging weiter, und Lisa spielte ihre Rolle: als Anwältin, SPD-Genossin, Partnerin. Und doch blieb da immer diese stille Hoffnungslosigkeit, mit der ihr Blick dann und wann in die Ferne glitt, wenn sich über alles, was sie tat, der eine Gedanke legte, der Gedanke, der nur selten und kaum hörbar nach außen drang: „Wenn meine Tochter noch lebte … “

Lisa arbeitete bis über die 70 hinaus, bis die Schmerzen in den arthrotischen Knien es nicht mehr länger zuließen. Von den Schmerztabletten wurde sie immer schläfriger, die Nieren gaben langsam auf. Franz-Josef blieb an ihrer Seite. Er pflegte sie, bis sie eines Tages in einen Schlaf fiel, aus dem sie nicht mehr erwachte. Mascha Elbers

Mascha Elbers

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false