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In den Containerunterkünften des Flüchtlingsheims in der Motardstraße bringt Elisa Kremerskothen Flüchtlingen Deutsch bei.

© imago

Engagement für Flüchtlinge: Lektion Lebenskunde

Die Umgebung ist in diesem Teil von Siemensstadt ist trist. Aber mittendrin: Leben. Unsere Autorin bringt Flüchtlingen Deutsch bei. Und wie fühlt sich das an? Ein Erfahrungsbericht.

Verlockend ist es nicht, sich in diese Gegend aufzumachen, der Teil von Siemensstadt ist wirklich trist. Rechts ein großes Heizkraftwerk, links eine Firmenniederlassung, hier residiert Osram. Vom U-Bahnhof Paulsternstraße zwischen Charlottenburg und Spandau geht es noch zehn Minuten weiter Richtung Nirgendwo. Der Schornstein des Kraftwerks stößt riesige weiße Rauchwolken aus. Hinter dem verwucherten Zaun kann ich die großen, grauen Container-Häuser der Flüchtlingsunterkunft Motardstraße 101a erkennen.

In der sogenannten Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge leben rund 600 Menschen aus Syrien, vom Balkan, aus der russischen Förderation. Hier sollen die Geflüchteten eigentlich nur bis zu drei Monaten bleiben. Wird der Asylantrag abgelehnt, folgt die Abschiebung. De facto wohnen die meisten aber viel länger in der Motardstraße – und warten.

Aktive Autorin. Die Reporter der Seite „Wer hilft wem“ schreiben nicht nur über gesellschaftlichen Einsatz, sie sind teils auch selbst aktiv – wie Elisa Kremerskothen, 22.

© privat

An einer Wand hängt ein großes buntes Bild. „Freedom“ steht oben, daneben eine Sonne. Wir haben das Nirgendwo erreicht. Der Pförtner fragt berlinerisch: „Und wohin wollta?“ Nach einigen Erklärungen kriegen wir die Schlüssel für die Unterrichtsräume. 10, 20, 30 Kinder springen mir entgegen, ziehen an meinen Armen, wollen mit mir Fußball spielen. Einige kenne ich, wir haben letzten Winter zusammen Kronen gebastelt. Es sind auch viele Neue dabei, die erkennt man an ihrer Schüchternheit, ihrer anfänglichen Distanz. Wir gehen zu den Unterrichtsräumen im hintersten Haus, beleuchtet ist der Weg hier nicht mehr. Einige erwarten uns schon lernfreudig und aufgeregt. Der Verein Multitude organisiert Deutschunterricht in verschiedenen Berliner Unterkünften für Flüchtlinge. So soll es ihnen ermöglicht werden, zumindest sprachlich an der Gesellschaft teilzuhaben. Vier Mal die Woche treffen sich ehrenamtlich Engagierte, um zwei Stunden Deutsch zu unterrichten. Studierter Germanist oder ausgebildeter Deutschlehrer muss man nicht sein. Die meisten „Lehrer“ sind Laien und haben einfach Lust, wollen einfach helfen.

Katastrophale Rahmenbedingungen

Im Haus warten noch mehr „Schüler“. Es wird voll heute. Wir verteilen uns in den zwei uns zur Verfügung gestellten Räumen. Das Haus ist in einem katastrophalen Zustand, es sollte eigentlich geschlossen werden. Mit der Zunahme der Geflüchteten wurde es jedoch wieder geöffnet. In den provisorischen Unterrichtsräumen befindet sich nicht viel: ein paar Tische, ein paar Stühle. Aber die Unterrichtssituation war auch schon mal schlimmer. Da fehlte sogar das Mobiliar.

Frontal unterrichtet wird hier nicht. Wir Lehrer setzen uns an die einzelnen Tische, die Schüler verteilen sich ebenfalls. Bei mir sitzen heute eine syrische Familie, zwei Afghanen und ein serbisches Mädchen. Das Mädchen versteht kein Wort Deutsch, deswegen schicke ich sie an den Nachbartisch. Da sitzen mehrere Serben, sie können sich gegenseitig helfen. Jetzt gilt es herauszufinden, was für ein Deutsch-Niveau meine Schüler sprechen. Soll ich alphabetisieren, den Dativ erklären oder Vokabeln üben?

An meinem Tisch verfügen alle über unterschiedliche Vorkenntnisse. Die beiden Afghanen können sich selbst vorstellen und kennen einfache Phrasen. Die Tochter der syrischen Familie spricht gut Deutsch, sie besucht in Berlin die Schule. Ihre Eltern müssen erst das lateinische Alphabet lernen.

Also gebe ich allen unterschiedliche Aufgaben, erkläre hier, verbessere da. Mit dem einen Afghanen komme ich ins Gespräch. Er erzählt, dass sein Vater von den Taliban ermordet wurde, daraufhin floh er. Iran, Türkei, Griechenland, Italien, Schweiz, Deutschland. Meist wusste er nicht, wo er gerade war. Eine Karte hatte er nicht und verständigen konnte er sich auch nicht. Sein Ziel: Toronto in Kanada. Erreicht hat er es nie, die Bundespolizei griff ihn auf. Seit drei Monaten wartet er, auf die Abschiebung, die Duldung – er weiß es nicht.

Wiedersehen ungewiss

Plötzlich stinkt es fürchterlich, weißer Rauch dringt durch die Türspalten. Den Kindern war langweilig, sie haben mit dem Feuerlöscher herumgespielt. Weißes Pulver hüllt den Flur ein. Der Unterricht muss abgebrochen werden. Die Schüler ärgern sich, wollten doch so viel lernen. Ein Glück geht es morgen weiter. Ich schließe die Türen ab, was für ein chaotischer Tag. Draußen wirkt alles noch dunkler, die Kinder begleiten mich zum Pförtner. Ob ich die Afghanen, die syrische Familie und die anderen wiedersehe, weiß ich nicht. Viele sind plötzlich nicht mehr da, werden in andere Flüchtlingsunterkünfte verlegt oder abgeschoben.

Und ich? Ich habe gelernt, mich auf die unterschiedlichsten Menschen einzulassen und definitiv auch, zu improvisieren – wenn es mal keine Tische, Stifte oder Wörterbücher gab oder meine Schüler kein Wort Deutsch oder Englisch verstanden. Ich habe auch viel von den Geflüchteten gelernt: Mut, Hoffnung, den Willen, zu kämpfen. Und vor allem weiß ich jetzt, wie privilegiert wir Deutschen sind.

Wer auch gern im Flüchtlingsheim mitarbeiten möchte, kann sich bei Multitude per E-Mail melden: info@multitude-berlin.de. Es gibt Treffen für „Einsteiger“, die Termine stehen auf der Webseite www.multitude-berlin.de.

Elisa Kremerskothen

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