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Berlin: Kult-Konzert mit Kängurus

Eine zauberhafte Sommernacht vereinte die Philharmoniker mit ihrer Großfamilie in der Waldbühne

Gibt es eine schönere Art, in die Ferien zu starten, als mit einem großen Fest für Familie und Freunde? Die Philharmoniker erfüllen sich diesen nachahmenswerten Traum jedes Jahr im Juni. Das Fest ist geprägt von Ritualen, die Sir Simon Rattle am späten Sonntagabend ein bisschen selbstironisch, aber sehr sympathisch benannte. „Guess what?“, fragte er das wie üblich sehr begeisterte Publikum. Dann fuhr er mit Miss Sophies Silvester-Satz fort, dem Urtyp aller Rituale: „Same procedure as every year.“ Anschließend gab’s wie jedes Jahr die „Berliner Luft“ , diesmal in einer Art Langfassung, oder erschien das nur so vor dem Hintergrund der immer hingebungsvolleren Mitwirkung der hier versammelten 20 000? „Wir freuen uns, unsere Riesenfamilie jedes Jahr hier zu haben“, sagte Sir Simon auch noch. Und dass bitte niemand vergessen möge, im nächsten Jahr wiederzukommen.

Die Aufforderung war ganz sicher überflüssig. Die Karten sind üblicherweise Monate vorher ausverkauft, denn der Vorverkauf an den Konzertkassen beginnt schon am Ende des Jahres. Glühende Fans informieren sich sowieso ständig auf der Website der Philharmoniker unter www.berliner-philharmoniker.de. Begeisterte Zuschauer einer Übertragung des Konzerts auf einer Leinwand im Sony-Center zeigten, dass es der Riesenfamilie an Nachwuchs nicht mangelt.

Auch eherne Rituale sind von Jahr zu Jahr leisen Abwandlungen unterzogen, spiegeln in gewisser Weise gesellschaftliche Wirklichkeiten. Eine neue Bescheidenheit, zum Teil auch verordnet, war durchaus erkennbar. Die Zeit der superopulenten Picknicks mit silbernen Kandelabern und Champagnerflaschen ohne Ende ist vorbei. Zum Kühlboxenverbot, das bereits seit einigen Jahren gilt, kam der von manchen Klassikjunkies fast ungläubig in der Schlange vorm Eingang laut vorgelesene Hinweis auf den Eintrittskarten, dass das Mitbringen von Waffen und Getränken verboten sei. In schlichten Rucksäcken schleusten aber doch viele Zuschauer ihre mit Wein gefüllten Thermoskannen ein und natürlich die Tupperdosen mit Käsewürfeln und belegten Baguettescheiben.

Unten in Block D führte ein roter Teppich sogar in ein neues, gut durchgestyltes Waldbühnen-Glamourgefühl hinein. Hier offerierte der „Brandenburger Hof“ seinen Gästen und Kunden in dunkelgrünen Korbtaschen ein professionell zusammengestelltes Picknick. Sogar Gläser und Flaschen waren dabei erlaubt. Mit Lust warfen die Mitarbeiter Tütchen mit hausgemachtem Eis in die Menge.

Die musikalische „Nuit française“ war sommerlich heiter geprägt. Mit dem „Carnaval romain“ von Hector Berlioz ging es beschwingt los. Ein Höhepunkt war „Le Carnaval des animaux“ von Camille Saint-Saëns in der Fassung für zwei Klaviere und Orchester. Die großartigen Solistinnen Katia und Marielle Labèque schufen Tierbilder aus Noten, verwandelten Gazellen und Kängurus in Klavierklänge und entließen sie lebendig und liebenswert in die Nacht. Mit klarer Sanftheit bewegten sie das Wasser im „Aquarium“. War es wirklich der Kuckuck, der da aus den Tiefen des Waldes rief oder doch die Kunst des Orchesters?

Der Zauber dieser Sommernacht wurde noch verstärkt vom makellosen Wetter, dem ganz sacht verglimmenden Abendhimmel, dessen gelassene Ruhe kaum das gelegentliche Knurren eines in der Ferne vorüberziehenden Flugzeugs zu stören wagte. Es war, als lauschten alle noch konzentrierter als sonst, so dass sich zum Finale des Karnevals der Tiere eine einzelne kleine Maus mitten auf den breiten Weg zwischen den Zuschauerblöcken traute und scheinbar andächtig mitlauschte. Stürmisch bejubelt wurde Maurice Ravels „Boléro“, wie eine Hineinsteigerung in die Vorfreude auf den Sommer. Da hing schon schwer der Duft der Wunderkerzen in der Luft.

Ein Wunder ist auch die Rückfahrt mit der S-Bahn in die Stadt. Es gibt keinen Termin im Jahreslauf, an dem sich einander eigentlich fremde Berliner so oft und so freiwillig zulächeln wie nach diesem Konzert. Es ist nämlich wirklich eine Art Familienereignis.

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