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Something has scared this 7-year-old, that's clear, and left him cowering. A disturbing image, but perfect for all sorts of childhood issues. Shot with Canon EOS 1Ds Mark III.

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Update

Kentler war nicht allein: Missbrauchsnetzwerk in der Jugendhilfe reichte weit über Berlin hinaus 

Beim Kentler-Experiment vermittelten Berliner Jugendämter von den 1960er- bis in die 2000er-Jahre Kinder an Pädosexuelle. Nun wurde der Abschlussbericht zu den Fällen vorgestellt.

| Update:

Ein bundesweites Netzwerk aus Sozialpädagogen, Behörden und Wissenschaftlern hat bis in die 2000er-Jahre sexuelle Gewalt in der Kinder- und Jugendhilfe gedeckt. Wissenschaftlerinnen der Universität Hildesheim haben am Freitag in Berlin ihren Abschlussbericht zu Missbrauchsfällen in der West-Berliner Jugendhilfe vorgestellt, die von den 1960er- bis in die 2000er-Jahre reichen. Konkret geht es um das Wirken des Sozialpädagogen und Sexualwissenschaftlers Helmut Kentler. Im Rahmen des sogenannten Kentler-Experiments waren bisherigen Untersuchungen zufolge Kinder und Jugendliche mit dem Ziel der Resozialisierung bewusst an zum Teil vorbestrafte pädophile Pflegeväter vermittelt worden.

Die wichtigste Erkenntnis der Forscher:innen: Kentler war nicht alleine, sondern Teil eines deutschlandweiten Netzwerkes. Angesehene Vertreter der Heimreform und der Sexualpädagogik gehörten diesem an – nicht zuletzt Gerold Becker, Schlüsselfigur des sexuellen Missbrauchs an der Odenwaldschule im hessischen Heppenheim.

Uni Göttingen als Ausgangspunkt des deutschlandweiten Netzwerks

Ausgangspunkt dieses Netzwerks ist laut dem Abschlussbericht die Universität Göttingen: Mehrere Akteure hätten am dortigen pädagogischen Seminar studiert oder seien dort tätig gewesen. Als weitere Knotenpunkte wurden neben Berlin und Heppenheim die Städte Lüneburg, Hannover und Tübingen benannt.

Lesen Sie hier den vollständigen Forschungsbericht der Universität Hildesheim.

Schuldig gemacht haben sich nach den Erkenntnissen der Forscher:innen Akteur:innen an allen möglichen Schaltstellen. Nicht nur in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe, insbesondere dem Landesjugendamt, sondern deutschlandweit seien sowohl fachliche als auch fachwissenschaftliche „Expert:innen“, darunter hoch dotierte Professoren, und Argumente herangezogen worden, um Kindeswohlgefährdungen zu rechtfertigen, zu vertuschen und sich gegenseitig zu schützen.

Zum Teil, betonten die Forscher:innen, sei dieses Netzwerk noch heute aktiv, bagatellisiere die Gewalt und lehne Aufklärungsversuche ab. Im Bericht heißt es dazu: „Bis heute lässt das Netzwerk keinen Raum für Betroffene. Den Diskursen, Deutungsmustern und Narrativen ist dabei inhärent, dass die Perspektive der Betroffenen und ihre Rechte nicht thematisiert werden und keine Reflexion von Machtverhältnissen – insbesondere zwischen sozialpädagogischen Professionellen und den jungen Menschen – vorgenommen wird.“

Als Täter benennt die Studie namentlich Helmut Kentler, Gerold Becker und Herbert E. Colla, Professor für Sozialpädagogik in Lüneburg. Alle drei sind inzwischen verstorben. Als Tatort wird unter anderem das „Haus auf der Hufe“ in Göttingen benannt. Dabei handelte es sich um eine Einrichtung der Jugendhilfe, in der Wissenschaftler:innen auch selbst pädagogisch tätig wurden. Den Forscher:innen zufolge wurde dort das Ideal der „besonderen pädagogischen Beziehung“ zwischen einem Mann und einem Jugendlichen hochgehalten, das auch Kentler propagierte – Stichwort „pädagogischer Eros“ oder „pädagogische Liebe“.

Auch die „Sozialtherapeutischen Wohngruppen“ in Tübingen, das niedersächsische Landesjugendheim und heilpädagogische Pflegestellen mit Verbindungen zur Odenwaldschule werden in diesem Kontext genannt. Laut Forschungsbericht sind „junge Menschen, die in der Verantwortung der Jugendwohlfahrt des Landesjugendamts Berlin waren, auch zwischen diesen Orten gewechselt“.

Mehrere Menschen wussten von den Taten – doch intervenierten nicht

Als einer von mehreren Bystandern, also Menschen, die von den Taten wussten, aber nicht interveniert haben, wird Martin Bonhoeffer genannt. Der Sohn des Chemikers Karl-Friedrich Bonhoeffer und Neffe des deutschen Widerstandstheologen Dietrich Bonhoeffer leitete in Tübingen eine Jugendhilfeeinrichtung. Im Zusammenhang mit dem Odenwaldskandal hatte 2010 ein Schüler auch gegen ihn den Vorwurf der sexuellen Belästigung erhoben.

Das Leid der Betroffenen ist unermesslich und wirkt ein Leben lang.

Katharina Günther-Wünsch (CDU), Jugendsenatorin

Weitere Bystander sind laut den Erkenntnissen der Studie Hartmut von Hentig, Axel Schildhauer, Hans Thiersch, Peter Widemann und Anne Frommann. Nur von Hentig ist heute noch am Leben. Kentler, der 2008 verstarb, war in den 1960er- und 1970er-Jahren Abteilungsleiter am Pädagogischen Zentrum Berlin und anschließend Professor für Sozialpädagogik an der Universität Hannover.

Die Rekonstruktionen der Forscher:innen basieren vor allem auf den Berichten von fünf Betroffenen, gemeldet hatten sich insgesamt sechs. Darüber hinaus seien Zeitzeug:innen interviewt sowie Akten und fachöffentliche Diskurse analysiert worden. Berlins CDU-Jugendsenatorin Katharina Günther-Wünsch erklärte am Freitag, alle Betroffenen hätten finanzielle Entschädigungen enthalten, sagte aber auch: „Das Leid der Betroffenen ist unermesslich und wirkt ein Leben lang.“ Ihr Haus werde die Erkenntnisse der Forschung nutzen, um „die Kinder- und Jugendhilfe institutionell zu sensibilisieren und kontinuierlich kritisch zu überprüfen“.

Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus, teilte nach Angaben der Deutsche Presse-Agentur (DPA) mit, dass einiges getan werden müsse, damit sich solche Taten nicht wiederholten. „Dafür müssen Fachkräfte in der Sozialen Arbeit zum Beispiel gut qualifiziert sein, besonders wenn sie im Kinderschutz eingesetzt werden und es um den Gefährdungsbereich sexueller Gewalt geht.“ Schon im Studium müsse verpflichtend vermittelt werden, was sexuelle Gewalt begünstige, wie Täterstrategien funktionierten und welche Signale Kinder aussenden könnten. 

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