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Erstmals legt die Gesundheitsverwaltung ausführliche Zahlen zu häuslicher Gewalt während der Pandemie vor.

© Peter Steffen/dpa

Kaum mehr Anzeigen, viele Hilferufe: Wie groß das Ausmaß häuslicher Gewalt in der Pandemie ist

Erstmals legt die Gesundheitsverwaltung dazu eine ausführliche Statistik vor. Im Vergleich zu 2019 stiegen die Zahlen leicht - und das Dunkelfeld wird größer.

Es ist wie ein Blick hinter die in der Pandemie verschlossenen Türen der Nachbarn, Freunde oder Kollegen. Erstmals hat die Berliner Gesundheitsverwaltung eine ausführliche Statistik über das Ausmaß häuslicher Gewalt in den verschiedenen Phasen der Bekämpfung des Coronavirus bis in den November hinein vorgelegt.

Die Zahl der Anzeigen stieg 2020 im Vergleich zum Vorjahr leicht (2,6 Prozent). Wobei der stärkste Zuwachs jeweils in den Phasen vor dem ersten Lockdown im März (6,4 Prozent) und während der Lockerungen im Sommer verzeichnet wurde (2,2 Prozent).

Insgesamt wurden 2020 bislang 14 051 Fälle von häuslicher Gewalt angezeigt. In 9255 Fällen waren Frauen Geschädigte, in 3374 wurden Männer zu Opfern und in 1057 Fällen trafen Schläge oder Tritte ein Kind. Das geht aus einer Antwort des Senats auf eine parlamentarische Anfrage des Grünen-Abgeordneten Benedikt Lux hervor, die dem Tagesspiegel exklusiv vorliegt.

Auffällig ist der starke Anstieg von partnerschaftlicher Gewalt gegen Männer: 2020 wurden 6,1 Prozent mehr Taten angezeigt als noch im Vorjahr. Allerdings zeigen Frauen noch immer dreimal so häufig häusliche Gewalt an. Die Zahl der Anzeigen gegen Gewalt an Kindern ist dagegen um fast fünf Prozent im Vergleich zum Vorjahr gesunken.

Statistisch bemerkenswert ist auch der enorme Rückgang von Sexualstraftaten während der harten Lockdownphasen zwischen März und Mai (minus 22 Prozent) und ab November (minus 12,2 Prozent) sowie der fast gleichermaßen enorme Anstieg gegenüber dem Vorjahr während des Sommers um 13,7 Prozent.

Die Zahlen scheinen zu bestätigen, wovor Sozialarbeiter und Ärzte seit Monaten warnen: Während der Lockdown-Phasen verdunkelt sich das sogenannte „Hellfeld“, Taten werden seltener zur Anzeige gebracht, durch Schul- und Kitaschließungen wird gerade Gewalt gegen Kinder seltener entdeckt. Es ist schlicht niemand da, dem Wunden auffallen könnten.

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Rückschlüsse auf die tatsächliche Situation lässt das Hilfesystem für von Gewalt betroffene Frauen zu: Nach den ersten Lockerungen im April gab es einen Anstieg der Anrufe bei der BIG-Hotline (Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen) um 33 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. In den Monaten März bis September lag das Anrufaufkommen um 13 Prozent höher als 2019. Das deckt sich mit Zahlen der Gewaltschutzambulanz der Charité: Im Juni wurden dort 30 Prozent mehr Fälle von häuslicher Gewalt und Kindesmisshandlung aufgenommen.

„Dass der Anstieg der Zahlen bei Polizei und Justiz geringer ausfällt als erwartet, relativiert sich, wenn man die erschreckenden Berichte der Gewaltschutzambulanz bedenkt und die vermehrten Anrufe bei Hilfetelefonen“, sagt der Innenexperte Lux. Er will deshalb mehr Plätze in Frauenhäusern.

Zurzeit gibt es laut Gesundheitsverwaltung knapp 1000, wegen der hohen Auslastung wird ein weiteres Haus gebaut. In Zeiten der verschlossenen Türen fordert Lux zu mehr Zivilcourage auf. Niemand dürfe weghören, „wenn Schmerzensschreie aus der Nachbarwohnung dringen“.

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