zum Hauptinhalt

Berlin: Jochen Wittur (geb. 1957)

Natürlich stellte er beim Applaus seine Kinder nach vorn

Alleine sterben, das Los des Junggesellen. Offiziell hatte Jochen Wittur keine direkten Hinterbliebenen. Doch die Wucht seines unerwarteten Todes traf seine vielköpfige Wahlfamilie: den „Kinderchor Canzonetta“.

Jochen Wittur hat für diesen Chor gelebt. Er hat die Leitung übernommen, als dieser noch Kinderchor des Pionierpalastes in der Ost-Berliner Wuhlheide war, 1988. Er hat ihn vor der Abwicklung bewahrt und durch die Wirren der Wende gebracht. Er wollte die Chorausbildung vom Kindergarten bis zum Abitur; verwirklicht wurde an der Richard-Wagner-Grundschule in Lichtenberg eine musische Orientierung mit dem Schwerpunkt Chor.

Aber er wollte die Ausbildung der jungen Stimmen bis zur erwachsenen Reife begleiten und nahm den Chor wieder aus der Schule und zog in das Kulturhaus Lichtenberg. Besser gesagt in die heruntergekommene Baracke neben dem Kulturhaus. Der Verein renovierte das marode Gebäude vollkommen, der Chor hatte seine Proberäume – und Erfolg. Konzert folgte auf Konzert, die Einweihung des Preußischen Landtages, Kinderchorfestivals, Workshops, Philharmoniekonzerte, Fernsehshows, Konzertreisen, Sommerfeste des Bundespräsidialamts und vor allem die Weihnachtskonzerte.

Jochen Witturs engster Vertrauter war der Komponist Manfred Grote. Er kann viel über die musikalischen Vorstellungen des Chorleiters sagen, über den schlanken Klang, die klare Aussprache, das breite Repertoire. Über Jochen Witturs Leben vor dem Chor weiß er wenig. Wie sollte er auch? Jochen Wittur war im Hier und Jetzt. Ein passionierter Grundschullehrer einerseits, rastloser Chorleiter andererseits.

Aber naturgemäß spielte die Mutter eine bedeutende Rolle. Jochen Wittur war Sohn eines Cellisten und einer Köchin, die ihre Arbeit aufgab, um die Erziehung des einzigen Kindes zu übernehmen. Mit dem Gewandhaus Leipzig war der Vater auf langen Tourneen und starb recht früh. Die liebevolle Strenge der Mutter und der Kosmos des Gewandhauses Leipzig prägten Jochen Witturs Lebensweg. Im Gewandhaus, hörte er das Weihnachtslied „Sind die Lichter angezündet“ unter der musikalischen Leitung von Hans Sandig. Später sollte er Sandig im Rundfunk-Kinderchor Leipzig assistieren.

Die musikalische Früherziehung in Lichtenberg war und ist nicht so institutionalisiert wie sie es damals in Leipzig war. Wer hier mit großem Anspruch tätig ist, muss robust gebaut sein und organisieren können. Das Schlimmste für Jochen Wittur jedoch war, wenn eine Stimme aus seinem Klangkörper ausschied. Wenn etwa die Eltern ihr perfekt ausgebildetes Kind an der musikalischen Oberschule anmeldeten, was das Ausscheiden aus Witturs Chor bedeutete.

Jeder Auftritt war eine gewaltige Kraftanstrengung für den Leiter. Vollkommen ermattet, manchmal mit Tränen der Erschöpfung in den Augen, aber immer glücklich kehrte er vom Dirigieren heim. Selbstverständlich hatte er beim Applaus seine Kinder nach vorn gestellt.

Alleine sterben. Wenn die Hinterbliebenen fehlen, veranlasst das Amt eine kostengünstige anonyme Bestattung. Die Beteiligten des Kinderchores, Eltern, frühere Sänger, musikalische Begleiter, übernahmen die Kosten eines würdigen Abschieds. Der Trauergottesdienst in der Taborkirche Wilhelmshagen war sein letztes Konzert. Während die 500 Trauernden am Grab vorbeischritten, riss das russische Schlaflied „Bajuschki baju“ nicht ab, das Lied, mit dem Jochen Wittur jedes Chorkonzert beschloss. Jetzt sangen und summten es seine Kinder eineinhalb Stunden: „Schlaf mein Kind, ich wiege dich leise“. Florian Simon

Florian Simon

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false