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Unterwegs in der Ring-Bahn. Autor Jens Bisky ist nur mit Widerwillen nach Berlin gezogen, hat sich dann aber mit viel Leidenschaft in die Geschichte der Stadt vertieft. Darüber erzählt er während einer S-Bahnfahrt mit Tagesspiegel- und „Checkpoint“-Redakteurin Ann-Kathrin Hipp. Foto: imago/Seeliger

© imago stock&people

Jens Bisky im neuen Ringbahn-Podcast: „Die Berliner verbindet das Schimpfen auf die Landespolitik“

Warum sind Berliner, wie sie sind? Zum Auftakt des Ringbahn-Podcasts vom Tagesspiegel Checkpoint lesen Sie Auszüge aus dem Gespräch mit Autor Jens Bisky.

Jens Bisky ist Autor des Bestsellers „Berlin – Biographie einer großen Stadt“.

Herr Bisky, Sie beginnen Ihre 976-seitige Berlinbiographie mit einem Zitat von Theodor Fontane: „Vor Gott sind alle Menschen Berliner“.
Ich finde diesen Satz großartig, weil man ihn in verschiedene Richtungen lesen kann. Er kann meinen: „Na, liebe Berliner, bildet euch mal nichts ein. Ihr seid wie alle Menschen.“ Oder er sagt, dass Berliner besonders frei und ungebunden ihr Menschsein entwickeln können.

Die Perspektive, aus der ich versucht habe, das Buch zu schreiben, ist eine kritische Sympathie. Ich wollte kein Stadtmarketing betreiben und finde vieles ganz furchtbar. Aber es gibt so eine Tradition, auch in der Literatur, immer den Zeigefinger zu erheben und Berlin vorzuwerfen, was es alles nicht ist.

Sie sind 1981 im Alter von 15 Jahren mit Ihrer Familie nach Marzahn gezogen, haben vorher in Leipzig gelebt.
Ich bin mit großem Widerwillen nach Berlin gezogen. Ich hatte das Gefühl, dass Marzahn alle meine Vorurteile bestätigt. Ich war stolzer Leipziger, fand die Stadt wunderbar. Dann kam ich hierher und um mich herum waren nur diese Plattenbauten. Wir haben in einem Hochhaus in der Kienbergstraße gewohnt – 13. Stock. In der Ferne habe ich den Fernsehturm und so ein bisschen das, was man Berlin nennen kann, schimmern sehen. In der Schule habe ich am Anfang immer noch den stolzen Sachsen gegeben.

Die Vorurteile, die Sie hatten – woher kamen die?
Es gab so eine gewisse Tradition des Berlin-Bashings – das seien die Großmäuler, die auf alle anderen als Provinzler herabschauen. Heute würde ich sagen: Ja, wie auch nicht.

Mittlerweile leben Sie im „West“-Teil der Stadt.
Als ich nach Friedenau gezogen bin und dort zum ersten Mal beim Arzt war – das ist jetzt sechs Jahre her – wurde ich gefragt, wo ich herkomme. Ich habe dann gesagt, dass ich vorher in Friedrichshain gewohnt habe und da guckte man mich nur mit großen Augen an und sagte: „Das ist sehr weit weg für uns.“ Auf der anderen Seite habe ich das Gefühl, dass die ehemalige Trennung, so wie ich mich durch die Stadt bewege und unter den Leuten, mit denen ich zu tun habe, keine große Rolle mehr spielt.

Dass die verschiedenen Teile Berlins politisch unterschiedlich wählen, war immer so. Deswegen hat es auch so lange gedauert, bis 1920 endlich Groß-Berlin zustande kam, weil die vermögenden Besserverdienenden im Westen und Südwesten nichts mit den sozialdemokratischen Wählern im Osten zu tun haben wollten.

Jens Bisky.
Jens Bisky.

© imago images / Gerhard Leber

Das Gesetz, das vor hundert Jahren aus vielen Städten das machte, was Berlin heute ist.
Es gab lange die Idee, Charlottenburg, Schöneberg, Berlin und all diese vielen selbstständigen Städte zusammenzufassen. Es gab damals keine politische Mehrheit dafür. Die Leute hatten in den blühenden, wohlhabenden Städten Schöneberg und Charlottenburg Angst, dass sie für die Armen im Osten bezahlen müssen.

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Es musste erst der Krieg verloren gehen und eine Revolution stattfinden, damit man sich auf den Zusammenschluss einigte. Eine Folge, die bis heute nur halb erfreulich ist: Wir haben sehr starke Bezirke in Berlin. Die hat man damals damit geködert, dass sie viel selbst entscheiden können.

Organisierte Unorganisiertheit – verantwortlich sind immer die anderen. In Ihrem Buch schreiben Sie, die Berliner Verwaltung sei einst eine „Modernisierungs-Agentur“ gewesen. Wie kann sie das wieder werden?
Ich glaube nicht, dass die Lösung der Probleme darin liegt, ein neues Organigramm der Verwaltung aufzumalen. In den sogenannten goldenen 20er Jahren gab es eine starke Kommunalpolitik. Dafür stehen Martin Wagner als Stadtbaurat und Ernst Reuter, der die BVG als größtes kommunales Unternehmen der Welt begründet hat und Verkehrsstadtrat war.

Von dieser starken Kommunalpolitik haben viele bis hinunter zu den Künstlern direkt und indirekt profitiert. Was Berlin heutzutage auch fehlt, ist eine politische Definition der Situation. Die letzte ist lange her. Das war Klaus Wowereit mit arm, aber sexy – und das hatte eine Wirkung. Im Moment reden die Leute lieber über Ausführungsbestimmungen, Absichten und Allgemeines. „Wir sind eine weltoffene, schöne Stadt.“ Ja, das wissen wir. Das muss uns keiner erklären.

Im vergangenen Jahr hat der Senat die Suche nach einem neuen Leitbild gestartet. Das erste Ergebnis: Berlin bleibt anders.
Das ist schon ein bisschen peinlich. Eigentlich haben die Berliner den Ruf, ein bisschen hell zu sein und schlagfertig und nie um einen guten Spruch verlegen. Ich kann das in dieser ganzen Leitbild-Diskussion nicht entdecken. Es wirkt sehr bemüht und langweilig. Im Grunde ist das Kreis-Sparkassen-Werbung.

Warum ist man nicht mutiger?
Es ist ein Problem, dass die Leute, die Landespolitik machen, schon sehr lange dabei sind. Seit wann regiert die SPD? 1989? Die Hälfte der Berliner ist später in die Stadt gezogen. Die haben immer nur die SPD an der Regierung erlebt. Ich habe nicht den Eindruck, dass aus der Partei im Moment wahnsinnig prickelnde Ideen für die Stadt entstehen.

Dass wir im Grunde immer noch mit Sätzen und Konzepten, die vor 20 Jahren aufgekommen sind, abgespeist werden, ist ein Nachteil der großen Stadt. Die Berliner lassen es sich gefallen. Man kann hier ja trotzdem ziemlich gut leben.

Ringbahn statt Podcaststudio - Journalist und Autor Jens Bisky im Gespräch mit Checkpoint-Redakteurin Ann-Kathrin Hipp
Ringbahn statt Podcaststudio - Journalist und Autor Jens Bisky im Gespräch mit Checkpoint-Redakteurin Ann-Kathrin Hipp

© Leon Ginzel

Sie beschreiben Berlin als „Sehnsuchtsort und Schreckensbild“. Was macht die Sehnsucht aus?
Manchmal ist es mir auch schleierhaft. Ich glaube, viele haben das Gefühl, sie können ihr Leben hier selbst definieren und zu einem Projekt machen. Sie müssen sich nicht an Nachbarn orientieren, nicht auf alles Rücksicht nehmen. Und viele Leute haben gemerkt, und das spricht sich herum, dass man Berliner werden kann.

Steile These.
Ich empfinde mich auch als Berliner. Ich glaube, jeder, der es sein will und hier drei Winter überstanden hat, kann sich mit Fug und Recht Berliner nennen. Wenn Sie nach München ziehen, leben Sie in einer wunderbaren Stadt, lernen viele nette Leute kennen, aber Sie bleiben Zugezogener.

Stichwort „Leben selbst definieren“: Ist die Berliner Freiheit nur noch ein Mythos der 90er Jahre, den es in dieser Form längst nicht mehr gibt?
Auch in den 90er Jahren konnte hier nicht jeder machen, was er wollte. Soweit ich mich erinnern kann, habe ich studiert und versucht, irgendwie einen Weg ins Berufsleben zu finden. Da konnte ich nicht tun und lassen, was ich wollte. Das kann ich heute viel eher. Und viele andere mussten auch damals schauen, dass sie ihre Familie ernähren, die Miete aufbringen ...

Wohnen – ein immerwährendes Thema?
Als Berlin 1871 Reichshauptstadt wurde, kampierten ganze Familien vor dem Frankfurter Tor und im Tiergarten, weil sie keine Wohnung fanden. Warum kamen die trotzdem alle? Weil sie auf den Dörfern, vor allem in den östlichen Provinzen Preußens, unter schlechteren Bedingungen gelebt haben. Wenn wir jetzt mal die ketzerische Überlegung wagen, dass es gar nicht so sehr die Anziehungskraft Berlins ist, die die Leute hierherzieht, sondern die Abstoßungskraft anderer? Da gibt es einen Zusammenhang.

Dann könnte man auch nach Hamburg oder München gehen.
Ja, nur ist Berlin immer noch deutlich preiswerter. Es ist schon eine Besonderheit, dass es in Berlin kein dominierendes oder Maßstab setzendes Milieu gibt. Es gibt viele Kreise, die sehr unterschiedlich auf die Stadt gucken. Weil Berlin so groß ist, kommen die ziemlich gut aneinander vorbei. Aber wie bringt man die zusammen? Ich finde, das ist auch eine politische Frage.

Was, glauben Sie, sind denn die Gemeinsamkeiten?
Viele Berliner verbindet das Schimpfen auf die Landespolitik. Das ist eine Art Volkssport.

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