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Friedhof der Parochialkirche an der Klosterstraße in Berlin-Mitte.

© Doris Spiekermann Klaas

Jakob Hirsch (Geb. 1924): Er war immer ein Berliner

Auf die Auswanderung waren sie vorbereitet, aber nicht auf das Leben in der Fremde.

Was ist ein Zionist? – Ein Zionist ist ein Jude, der von einem anderen Juden Geld sammelt, um einem dritten Juden die Auswanderung nach Palästina zu ermöglichen. Viele deutsche Juden machten ihre Scherze über die oftmals bitterernst wirkenden Zionisten, die so vehement ein eigenes Land forderten. Warum auswandern? Wer sich assimilierte, fand ja seine Heimat in Deutschland.

Jakobs Vater hatte im Ersten Weltkrieg gekämpft und war mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden, der Bruder der Mutter hatte sich bei Kriegsausbruch freiwillig gemeldet und war in den ersten Wochen als blutjunger Held des Vaterlandes gefallen. Der Bruder des Vaters, Onkel Louis, wurde in Theresienstadt ermordet, Tante Trude in Auschwitz. Die beiden hatten nie daran gedacht auszuwandern. Für Jakobs Eltern hingegen war es schon lange vor Hitlers Machtantritt beschlossene Sache gewesen, nach Palästina zu gehen.

Sein Vater hatte am Kurfürstendamm ein Anwaltsbüro, die Mutter war studierte Medizinerin, sie waren erfolgreich und fühlten sich dennoch nicht heimisch. Auch nicht in der Religion. Die Eltern waren keine frommen Juden. Ihre Synagoge war kein Gebetshaus, sondern das Palästina-Amt in der Meineckestraße, der Sitz etlicher zionistischer Verbände. Politik war morgens, mittags und abends Thema am Tisch. Jakob erhielt Hebräischunterricht, er sang hebräische Lieder, und er spürte, wie der Antisemitismus, vor dem die Eltern ihn schützen wollten, immer beängstigender wurde. „Wir Kinder bekamen mehr mit, als die Erwachsenen dachten. Als Neunjähriger wunderte ich mich sehr, warum plötzlich Lieder in den Straßen gesungen wurden, in denen der Text ,Wenn das Judenblut von Messern spritzt’ oder ähnlich ging. Ich fragte meine Eltern, warum die Leute unser Blut an ihren Messern haben wollten. Sie antworteten nur, dass das ein Spiel sei. Auch war es seltsam, plötzlich Schilder wie ,Juden und Hunde unerwünscht’ an Restaurants hängen zu sehen. Meine ganzen Freunde wandten sich von mir ab.“ Jakob fiel es leicht zu gehen. An Bord der „Theodor Herzl“ kam die Familie am 14. November 1935 in Haifa an. Auf die Auswanderung waren die Eltern vorbereitet, aber nicht auf das Leben in der Fremde.

Plötzlich war alles Deutsche im Haus verpönt

Wüste und Kibbuz, Malaria und Hitze, das Berliner Großstadtleben war sehr fern. Die Familie zog nach Jerusalem. Devisen hatten sie nicht ausführen dürfen, aber einen Kühlschrank und einen kleinen Esstisch. Schwieriger als die Wohnsituation war die berufliche Eingewöhnung. Der Vater fand wieder Arbeit als Jurist, setzte sich im Friedensbund „Brith Ichud“ für die Verständigung zwischen Juden und Arabern ein, was ihm von vielen übelgenommen wurde. Eines Tages fanden sie als Warnung eine „kleene Bombe“ vor der Haustür.

1939 verfolgte Jakob im Radio die Nachricht über den Angriff Deutschlands auf Polen. Das war auch sein Krieg, der nun gegen Deutschland geführt wurde. Das britische Militär zog ihn ein, Munitionsdienst, kein ungefährliches Tun, aber er machte nie ein Aufheben darum. Nach Kriegsende versuchten einige aus seiner Kompanie, ihre Familienangehörigen in Osteuropa wiederzufinden. Erste Berichte darüber, was dort in den Vernichtungslagern geschehen war, verbreiteten sich. Erst jetzt erfuhr auch Jakobs Familie vom Schicksal des Onkels und der Tante. Fortan war alles Deutsche im Haus verpönt.

In Israel überleben hieß Krieg gegen die Nachbarn führen. Einen Monat lang konnte Jakob nach seiner Entlassung aus der Armee Jura studieren. 1947 wurde er wieder einberufen, diesmal ins israelische Militär. Er war Soldat im Sinai-Krieg, wurde 1967 für den Sechstagekrieg eingezogen und ein letztes Mal 1973. Er war 56, als sein Dienst endete.

Jakob fand Arbeit beim Rechnungshof

Der junge Staat Israel brauchte Soldaten und Beamte. Jakob fand Arbeit beim Rechnungshof. Das Organisieren und Kontrollieren lag dem „Jecken“, wie man die deutschen Juden in Israel mit spöttischem Unterton nannte. Auch seine Frau Schoschana stammte aus Deutschland. Verwandte hatten sie miteinander verkuppeln wollen, vergeblich zunächst. Dann trafen sie sich zufällig auf einer Busfahrt wieder und wurden ein Paar. Drei Kinder kamen auf die Welt. Deutsch wurde im Hause Hirsch noch immer nicht gesprochen.

20 Jahre nach seiner Auswanderung kam Jakob Hirsch beruflich das erste Mal wieder in die alte Heimat, nach Köln. Die Straßenbahnfahrten vom Hotel zum Büro waren schrecklich. Die Männer, denen er gegenübersaß, das mussten doch ehemalige Gestapo-Schlächter sein, die nur eins dachten: „Da ist wieder einer, der uns durch die Lappen gegangen ist!“ Jakob verspürte einen Hass, der sich erst allmählich legte. Die Besuche wurden häufiger, auch die nach Berlin. „Ich habe ja dorthin gehört, im Schlechten wie im Guten.“ Das alte Wohnhaus stand nicht mehr, aber die Drogerie gab es noch. „Dann ging ich auf den Spielplatz. Der war viel kleiner geworden, dabei bin ich nur größer geworden.“

Erinnerungen kamen zurück, als er die U-Bahn am Theodor-Heuss-Platz, ehemals Adolf-Hitler-Platz, verließ. Das Fußballspielen unter den Kastanien auf dem Branitzer Platz, der Weg zum Postamt in der Soorstraße. Erinnerungen an die Angst des Vaters, als dieser in der Nacht des Röhm-Putsches 1934 noch einmal auf die Straße gegangen war.

Seine Wohnung hieß „Hotel zum alten Hirsch“

Auch 1989 waren sie in der Stadt, auf Einladung West-Berlins. Er und seine Frau hatten von der Umbruchstimmung in der DDR gehört. Neugierig überquerten sie einen Grenzübergang und fuhren mit der Straßenbahn bis an den östlichen Rand der Stadt. Vom Widerstand gegen den Staat spürten sie in den Neubaugebieten nichts. Eine Woche nachdem sie wieder in Jerusalem waren, fiel die Mauer. „Das habe ich den Berlinern nie verziehen“, sagte er mit einem Lächeln.

Wenige Jahre später starb seine Frau, was sehr hart war für ihn. Er nahm Ehrenämter an, um zu vergessen, viele Ehrenämter. „Ich habe nicht so viel Geld, um viel zu spenden. Ich spende meine Zeit.“ Zeit, die er gern mit jungen Deutschen verbrachte, die er über die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste kennen lernte. Seine Wohnung hieß fortan „Hotel zum alten Hirsch“, und die ausladende Couch wurde zum Ort nächtlicher Diskussionen. Wer zu ihm nach Hause kam, trat in eine andere Welt. Die Tauben gurrten vor dem Haus, im Hintergrund das Rauschen der Großstadt und immer wieder Sirenen. Der Blick aus dem Fenster: die Hügel von Jerusalem. Ein Wüstenwind hüllte die Stadt in goldgelbes Licht. Direkt hinter einem der Hügel lag Bethlehem, hinter einem anderen das Mittelmeer. Der Plattenspieler lief: Lotte Lenya sang Kurt Weills Dreigroschenoper. Jakob Hirsch auch und summte mit, so gut er konnte.

Jerusalem war seine Stadt

Mit seinen jungen Freunden feierte er die „Toten Hosen“ bei einem ihrer Konzerte in Tel Aviv. Er lebte ganz im Jetzt, nicht weil er sich scheute, zurückzublicken, sondern weil es jetzt so viel zu tun gab. Die jungen Leute sollten Jerusalem lieben lernen. Er führte sie nach Mea Shearim, durch die engen Marktgassen der Altstadt zur jenseits der Stadtmauer liegenden Cinémathèque, von deren Terrasse man mit etwas Glück bis nach Jordanien blicken kann. Dem YMCA gegenüber, dessen Schwimmbad er als Junge gelegentlich um den Eintritt geprellt hatte, liegt das berühmte King-David-Hotel. Von dort aus ging es durch Rechavia, die „preußische Insel im Meer des Orients“, wo er als Jugendlicher aufgewachsen war. Jerusalem war seine Stadt. Ein Leben auf dem Lande sei nichts für ihn, sagte er immer. Er sei schließlich noch immer ein Berliner, irgendwie. Der leichte Berliner Dialekt verriet ja seine Herkunft.

Wenn dann die Sonne hinter den Hügeln unterging, tauchte sie die Wohnung in ein warmes Licht. Jakob Hirsch skypte gern mit seinen Freunden in aller Welt, tauschte Erinnerungen aus an die vielen Reisen, die ausgetrunkenen Weinflaschen, die Jazzkonzerte, das Lachen und das Weinen, und er schrieb, dass für alles Zeit gewesen war in seinem Leben.

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