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Berlin: Irma Reinhold (Geb. 1908)

Die Mutter gibt das Lebensmotto vor: "Wir sind anders"

Sie stirbt einen Tag vor ihrem 103. Geburtstag in ihrer Zweizimmerwohnung am Kreuzberger Oranienplatz. 90 Jahre hat sie dort gelebt, davon 50 Jahre mit ihrer Mutter. Ofenheizung, Toilette, kein Bad. Mehr hat sie nie gewollt. Nur keine Veränderung! Nur keine Handwerker! Sie befürchtet eine Mieterhöhung. Auch wenn der „Miethai“ selbst in diesem Haus geboren ist, dort wohnt und sie schätzt. Er ist ja ein Kreuzberger wie sie. Aber warum sollte sie mehr Geld bezahlen? Sie hat doch nur die kleine Rente. Seit drei Jahren hat sie ihr Bett nicht mehr verlassen. Warum auch? Sie hat so viel gesehen. „Mutti, hol mich endlich!“ Das Warten hat gedauert, seit 1980 war sie mit der Ordnung der letzten Dinge beschäftigt. Ihrem Zeitungsausschnittarchiv, den Stickwaren, Bildern und Eintrittskarten, Programmheften und Fotos. Ihren Erinnerungen an eine vergangene Zeit.

1909 der Einzug mit der Mutter, die frisch verwitwet ist und im „Kuchen-Kaiser“ arbeitet, im selben Haus, dem sogenannten Angestelltenhaus. Das Geschäft ist eine Institution: mehr als 300 Kuchen im Angebot, Exporte in die ganze Welt, ein Unternehmer, der sich um seinen Profit ebenso kümmert wie um das Wohl seiner Angestellten und die neuesten technischen Errungenschaften. Das Geschäft hat mehr als 100 Angestellte, Stammkunden wie Paul Lincke, die erste elektrische Kühlanlage der Stadt und einen der ersten Motorlieferwagen. Der brennt allerdings beim Ankurbeln vor dem Haus aus. Per Zeppelin gelangen die Kaiser-Kuchen in die weite Welt.

Der Oranienplatz: ein gutbürgerlicher Ort, auch wenn in den Nebenstraßen die Proletarier hungern. Kaufhäuser wie „Wertheim“ in der Nachbarschaft, der Luisenstädtische Kanal vor der Haustür. Die Telefonleitungen werden zwischen den Häusern gespannt, das Quartier pulsiert.

1926 wird der Kanal von Arbeitslosen zugeschüttet, wenige Jahre darauf bricht die Wirtschaftskrise aus, das Kuchenimperium wankt. Irma hat inzwischen Sekretärin gelernt, Steno und Englisch. Leidenschaftlich und virtuos spielt sie Klavier. Sie arbeitet bei kleinen Firmen, oft um die Ecke. Kurze Arbeitswege sind von Vorteil, denn sie ist ein Nachtmensch, kulturinteressiert und ausgehfreudig. Wenn sie von Mutti geweckt wird – Katzenwäsche und ab zur Schicht. Es gibt so viel zu erleben, am allermeisten dort, wo man nicht ist. Natürlich liest Irma auch viel, Tucholsky, Tschechow, die neue Sachlichkeit. Sie hat viele Freunde, egal ob Proletarier, Künstler oder Kleinbürger. Besonders zieht es sie und ihre Mutter in die Laubenkolonie Wensickendorf, wo sie die Kunstmaler bewundern. Das sind weder Avantgardisten noch Bohemiens; sie malen Stillleben und Landschaftsbilder – ganz nach dem Geschmack der beiden Kreuzbergerinnen.

Zu Hause herrscht nicht nur Harmonie. Mutter und Tochter haben unterschiedliche Auffassungen über die Haushaltsführung. Gemessen an den Maßstäben der Mutter ist Irma etwas chaotisch. Sie will raus, die Mutter warnt. Irma heiratet einen älteren Mann, den sie im proletarischen Ruderverein kennengelernt hat – ein Befreiungsversuch. Mit ihm rudert sie, reist und übersteht den Weltkrieg. Über die dunkle Zeit hat sie nur wenig erzählt.

1947, nach 13 Jahren, scheitert ihre Ehe. Irmas Sohn, der kurz nach der Geburt im Hungerwinter an Unterernährung stirbt, ist nicht vom Ehemann.

Also zurück zur Mutter, die 1950 ihren zweiten Mann verliert. Jetzt ist Irma wieder willkommen. Heiraten wollen beide nicht mehr. Und die Mutter gibt das Lebensmotto vor: „Wir sind anders.“ Theater, Konzerte, Bücher und Filme sind das Surrogat, immer mit Anspruch und Niveau. Nicht alles tun sie gemeinsam – aber wenn sie ohne einander unterwegs sind, auch in Berlin, dann schreiben sie sich Postkarten. Wie überhaupt die Zettelwirtschaft in dieser Beziehung eine wichtige Rolle spielt. Verschiedene Essens- und Schlafzeiten, aber eine Schicksalsgemeinschaft.

1970 stirbt die Mutter, und Irma wohnt nun allein in der Wohnung. „Kuchen-Kaiser“ ist seit 1957 Geschichte, das ganze Quartier hat seinen Glanz verloren. Aber Irma bleibt kess und lebensfroh. Die große Politik nimmt sie durch Zeitungen wahr, die Aufbrüche im Kreuzberg der späten siebziger Jahre auf der Straße. Irritiert beobachtet sie die jungen Menschen, die den maroden Stadtteil erhalten und wiederbeleben wollen. Ihre Kontakte knüpft sie nun in der Hausgemeinschaft, zu den Nachbarn und zum Arzt im Haus.

Mit ihm spielt sie vierhändig Klavier, sie gießt seine Blumen und diskutiert über Kultur und Politik und das Leben sowieso. Leicht ist der Umgang mit ihr nicht immer, ihr Humor ist britisch, manchmal schwarz – vielleicht eine Schutzhaltung. Klar und unsentimental sieht sie, wie die Jahre an ihr vorüberziehen, den Arzt begrüßt sie mit der Frage „Haben Sie mir Strychnin mitgebracht?“ Nachts hört sie Kulturradio und wartet auf die blaue Stunde, die geliebte Morgendämmerung. Dem Fernseher misstraut sie, nachdem Ende der Achtziger ihr Apparat einen Schwelbrand ausgelöst hat. Sie verlor nicht nur das Mobiliar, sondern auch einen Teil ihrer Ersparnisse: Sie befanden sich in der Matratze, die die Feuerwehr zur Freude der Schaulustigen aus dem Fenster warf.

Als sie 90 wird, erhält sie eine Mieterhöhung. Sie soll den Mietvertrag von 1909 beim Vermieter vorlegen. „Erst nach meinem Tod“, antwortet sie und geht zur Mieterberatung. Ein Glücksfall. Denn hier lernt sie Herrn W. kennen, den einzigen Mieter aus ihrem Haus, der auch noch Ofenheizung hat. Es ist der Beginn einer zehn Jahre währenden Beziehung, die einen Hauch von „Harold und Maude“ hat. Herr W. ist 50 Jahre jünger als sie und gehört zur schwullesbischen Kreuzberger Subkultur. Sie begleitet ihn nachts durch die Bars, sitzt mit einem Likörchen im „Bierhimmel“ oder bei „Möbel Olfe“. Gemeinsam besuchen sie den „Transgenialen Cristopher Street Day“, er im silbernen Kleidchen, sie mit Blumen im Haar. Ein letzter Frühling. Das exzentrisch wirkende Paar wird begeistert fotografiert. Aber ihr Leben und ihr Verhältnis taugen eigentlich nicht zum Postkartenmotiv. Schrill ist hier eigentlich gar nichts.

Viele der Freunde von Herrn W. verstehen sein Engagement nicht. Aber er teilt mit Irma eine Geistesverwandtschaft, die Brücken schlägt. Waschen kennt sie nur mit der Schüssel, er lädt sie in seine Badewanne ein, mit Kerzenlicht und Rosenblättern. Nach langem Zögern willigt sie ein, nach zwei Stunden kommt sie dann aus der Wanne. Zufrieden.

Er kümmert sich, wo er kann. Die geliebte „Morgenpost“ vorlesen, kochen, waschen, spazieren, einkaufen, Bootsausflüge, Kino und Picknicks. Irma setzt sich ins Gras und erinnert sich an die Zeiten des proletarischen Rudervereins, die Zeltreisen. Die Natur ist ihr immer noch wichtig. Was sie für Greenpeace spendet, spart sie beim Essen.

Nach zehn Jahren bringt Herr W. nicht mehr so viel Kraft und Zeit auf, um dieser faszinierenden, doch schon sehr alten Frau zu genügen. Selten zeigt sie Gefühle, aber wenn, dann in einer Entschiedenheit, die keinen Rückzug zulässt. Ihre Verlustangst und wachsende Unselbstständigkeit thematisiert Irma mit großer Klarheit: „Erst meine Mutter, dann mein Mann, dann wieder meine Mutter und jetzt Sie.“ Alle gehen, sie bleibt noch.

Sie wird dement und schwächer und anstrengender. Immer die selbst gestellten Fragen, wenn er ihre Tür öffnet. Ist sie gestürzt, verletzt, desorientiert oder schlecht drauf? Oder erwartet sie ihn kotverschmiert? Dann aber ihre Zettelchen, die ihn so anrühren, ihr Kampf um Haltung: „Es ist zwecklos etwas zu sagen – ich höre nichts. Bin weit entfernt. Gute Nacht!“ Oder nach einem Schlaganfall: „So allein gehe ich nicht gern.“ Als sie hundert wird, ein letztes Aufbäumen im „Kuchen-Kaiser“. Seit ein paar Jahren gibt es in ihrem Haus ein Café, das den alten Namen trägt. Die Frage, warum sie so alt geworden ist, beantwortet sie geistesgegenwärtig: „Da verhandele ich noch mit den pharmazeutischen Firmen.“ Ein Schlusspunkt.

Die Pflege übernimmt nun ein professioneller Dienst. Irma trägt jetzt eine Art Strampelanzug, sie liegt in einem Krankenbett und wird versorgt. Ihre Wohnung ist auf die Pflege abgestimmt, ihr Leben nur noch auf einfache Sinneseindrücke reduziert, das, was sie noch sagt, ebenso: „Der Kaffee schmeckt aber gut.“

Irgendwann schmeckt auch der Kaffee nicht mehr. Besuch erkennt sie nur für Sekunden oder gar nicht mehr. Aber sie schläft in den eigenen vier Wänden ein. Das war ihr wichtig. Aber ob sie es noch wahrgenommen hat? Erik Steffen

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