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Berlin: Ingrid Rabe (Geb. 1916)

20 Jahre war sie 40, 20 Jahre war sie 60. Mit 80 war sie 80

Frauen bewegen Berlin: Die Scala-Girls. Die Tänzerinnen der führenden Varieté-Bühne Europas: „ … und abends in die Scala“. Ingrid Rabe war eine von ihnen, Tänzerin mit Leib und Seele. Mit fünf bekam sie Ballettunterricht, weil die Mutter meinte, sie würde wie ein alter Matrose laufen. Ingrid hat es geliebt, das Tanzen, aber ihrer eigenen Tochter hat sie es später verboten. „Es ist schön, aber hart.“

Sie wurde stellvertretende Ballettmeisterin im Metropoltheater, tanzte im Wintergarten, war Frontgirl in vielen Filmen von Marika Rökk. Sie kannte Henny Porten, Asta Nielsen, Zarah Leander, aber das Leichtlebige, die Bohème, das war nicht ihr „Milljöh“, da fühlte sie sich nicht so zu Hause. Im Zirkus ja! Sie hatte sich schon mit 16 zur Akrobatin ausbilden lassen und war mit der Artistenfamilie van de Velde durch die halbe Welt gezogen, um dann doch wieder nach Berlin zurückzukehren, der Mutter zuliebe.

Frontgirl, die Bezeichnung gewann im Krieg eine ganz neue Bedeutung. Sie war in der Truppenbetreuung eingesetzt, in Frankreich, den Niederlanden, Belgien. Tanzen für die Wehrmacht. Nebenbei erkundete sie, wie den jüdischen Nachbarn daheim die Flucht ins Ausland zu erleichtern war. Ingrid hasste die Nazis.

1943 war die Mutter verhaftet worden. Sie hatte sich von den Nationalsozialisten nicht den Mund verbieten lassen wollen. „Mein Chef war ein Guter, mein Arzt, mein Rechtsanwalt, alle waren gute Menschen, und die sollen jetzt schlechte Menschen sein, nur weil sie Juden sind?“

Die Mutter half, wo sie konnte, wurde verraten und kam ins KZ Ravensbrück. „Mich haben die Truppen der Roten Armee befreit“, hat sie immer wieder betont, wenn von den Gräueln der Russen die Rede war.

Nach dem Krieg kamen Tochter und Mutter wieder zusammen. Ingrid heiratete, aber das hielt nur zwei Jahre. Sie ließ sich nicht gern reinreden. Nach dem Krieg gab es in Deutschland für eine Tänzerin keine Arbeit, keine Varietés, keine Ballettschulen, Ingrid ging nach England. Die Scala-Girls hielten noch immer zusammen, halfen sich weiter, wo immer auf der Welt sie untergekommen waren.

Nach drei Jahren kam sie zurück und kaufte vom Geld der Mutter einen kleinen Kiosk. Für alles hatte sie einen wachen Blick. „Sonne statt Blei!" Sie beteiligte sich an der Bürgerinitiative gegen die Batteriefirma „Sonnenschein“, die Bleischleuder des ehemaligen Postministers Schwarz-Schilling, die in Mariendorf den Boden vergiftete.

Mit ihrer Mutter gehörte sie zu den Gründungsmitgliedern der Lagergemeinschaft und des Freundeskreises Ravensbrück. Sie war froh und stolz, als Klaus Wowereit ihr das Bundesverdienstkreuz übergab, im Namen des Bundespräsidenten. „Was, der kennt mich doch gar nicht“, entgegnete sie und fügte noch hinzu: „Sag dem Bundespräsident bitte, dem Filbinger, dem alten Nazi, dem soll er es aber aberkennen, das Kreuz.“

Sie ging in die Schulen und sprach über die NS-Zeit: „Vergangenheit geht immer bis jetzt.“ Sie brachte in der Initiative „One by One“ die Kinder von Opfern und Mitläufern ins Gespräch. Sie scheuchte im Tempelhofer Frauenmärz ihre Geschlechtsgenossinnen und wurde dafür in der Plakataktion „Frauen bewegen Berlin“ gewürdigt.

Aber auch ihr gelang nicht alles. Den Karneval brachte sie nicht nach Berlin. In den Fünfzigern war sie Chefin der Funkengarde, die keine Holzgewehre schwang wie am Rhein, sondern hölzerne Damenbeine – es nutzte nichts. Die Berliner wollten den Karneval nicht.

20 Jahre war Ingrid Rabe 40, 20 Jahre war sie 60. Mit 80 dann stand sie notgedrungen zu ihrem Alter. Sechs Wochen, nachdem sie einen Schlaganfall erlitten hatte, bat sie die Ärzte zu sich. Sie wollte ihnen etwas zeigen. Etwas, das sie überzeugen würde, dass es Zeit war, Ingrid Rabe umgehend aus der Klinik zu entlassen. Die sehr exklusive Vorstellung einer 88-Jährigen: ihr letzter Spagat. Gregor Eisenhauer

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