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VHS Neukölln bereitet Teilnehmer auf Schulabschluss vor: Im „Lernhaus“ entwickeln Analphabeten Selbstbewusstsein

Worte wie "Übernachtungen" sind ein Problem für Menschen, die kaum Lesen und Schreiben können. Das „Lernhaus“ legt die Basis für eine spätere Arbeitsstelle.

„Übernachtungen“ kann ein verdammt kompliziertes Wort sein. Martina Schwenke* kämpft sich mühsam bis zum letzten Buchstaben durch, sie liest langsam, die Betonung könnte besser sein. Aber dann hat sie es geschafft. Sie hebt den Kopf von dem Papier, das vor ihr liegt. „Übernachtungen“, das ist ein Wort, an dem sich Zweitklässler versuchen. Martina Schwenke blickt jetzt nach vorn, zu ihrer Lehrerin, sie wartet auf eine Reaktion.

Die Schülerin trägt Jeans, ihre blonden Haare sind hochgesteckt, sie hat eine dunkle Stimme. Martina Schwenke ist etwa 30 Jahre alt.

Vorne steht eine Tafel, auf die „Tun-Wort = Verb“ gekritzelt ist. Vorne, an einem Pult, sitzt aber auch Sabine Pfeiffer, wiederholt langsam „Übernachtungen“ und klatscht. Für jede Silbe ein Mal. Martina Schwenke nickt. Okay, nächster Versuch. Diesmal soll sie „gemütlich“ in Silben aufspalten. „Klatsch mal bei jeder Silbe“, sagt Sabine Pfeiffer, „und achte auf die Endungen.“

Martina Schwenke klatscht bei jeder Silbe, sie achtet auch auf die Endungen, es hört sich ganz gut an, Sabine Pfeiffer ist zufrieden.

Drei Frauen sitzen vor der Pädagogin, nach Abstandsregeln gut verteilt, das Klassenzimmer ist klein, es gibt wenig Platz. Auf einem Plakat an der Wand steht in bunten Buchstaben: „Wort des Tages: die Klosterruine, der Gabelstapler, Patient, Porzellan.“

„Gabelstapler“ sagt hier außer Sabine Pfeiffer niemand auf Anhieb flüssig. Die drei Frauen, die hier sitzen, sind unterschiedlich alt, aber in einem Punkt auf ähnlichem Niveau: Sie können nur unzureichend lesen und schreiben, sie haben Probleme mit dem Rechnen.

Eine Pädagogin mit viel Einfühlungsvermögen

Deshalb kommen sie ja ins „Lernhaus“ der Volkshochschule Neukölln, deshalb sind sie im Lehrgang „Fit für den Beruf“. Fit macht sie unter anderem Sabine Pfeiffer, Leiterin des Kurses „Lesen und Schreiben“, eine Frau mit enormem Einfühlungsvermögen. Eine Pädagogin, die zu ihren Schülern sagt: „Alle können etwas. Man braucht eine wahnsinnige Fähigkeit, durch den Alltag zu kommen, wenn man weder lesen noch schreiben kann.“ Vor allem, wenn man sich deswegen schämt und verzweifelt immer neue neue Lösungsstrategien entwickeln muss, um sich nicht zu verraten.

30 Plätze bietet das „Lernhaus“ in der Nähe des Hermannplatzes, wer hier an der Schulbank sitzt, bringt aber zumindest rudimentäre Kenntnisse mit. „Jeder, der hier ist, kann mindestens das Alphabet, aber viele können nicht lesen oder schreiben“, sagt Nikola Amrhein, Diplompädagogin und Leiterin des „Lernhauses“. Wer hier sitzt, kann entweder höchstens Buchstaben entziffern oder hat fast alles wieder vergessen, was die Schule vermittelt hat.

Sabine Mogge hatte neun Jahre lang in einer Lernbehindertenschule verbracht, Zeit genug, um sehr gut Lesen und Schreiben zu lernen. Sie allerdings hat „nur die Zeit abgesessen“. Jetzt ist sie 48, hat vier Kinder, verdiente zwei Jahre lang Geld als Putzfrau, nun möchte die Frau mit den rötlichen Haaren irgendwann eine Weiterbildung beginnen. Seit drei Wochen sitzt sie im „Lernhaus“.

Es gibt keine Klassenstufen, sondern drei Level

Ein Haus mit nüchternen Räumen, mit Klassenräumen, aber ohne typische Klassenstufen. Stattdessen sind die Teilnehmer, je nach Niveau, in drei Levels aufgeteilt. In Level zwei sitzen jene, die minimalste Grundkenntnisse besitzen. Wer in Level vier aufgerückt ist, kann Texte in relativ leichter Sprache flüssig lesen und auch verstehen. Drei bis fünf Jahre brüten die Schüler im Schnitt über ihren Texten und Rechenaufgaben, das Ziel ist immer gleich. „Nachdem sie uns verlassen haben, gehen sie an eine Schule und legen dort einen Abschluss ab. Darauf bereiten wir sie vor“, sagt Nikola Amrhein. Oder sie werden fit gemacht für eine Weiterbildung, die letztlich zu einer Ausbildung und zu einem Job führt. „Einen Schulabschluss kann man bei uns aber nicht erwerben.“

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Entscheidend hier ist die Vorbereitung auf die eigentlichen Prüfungen. Und da leistet das „Lernhaus“ offenbar gute Arbeit. „80 Prozent unserer Schüler und Schülerinnen haben später eine Arbeit oder eine Weiterbildung“, sagt Nikola Amrhein. Die meisten kommen in den Bereichen Pflege, Verkauf, Lager, Gärtnerei, Küche oder Kosmetik unter.

Der junge Iraker Mohammed sitzt in Level vier. 2015 kam er nach Deutschland, er möchte Erzieher oder Krankenpfleger werden. Die Chancen stehen nicht schlecht, am Engagement jedenfalls mangelt es nicht. „Mein Lesen und Schreiben hat sich erheblich verbessert“, sagt er, „aber ich bin auch immer pünktlich da.“

Von 9 bis 14.30 Uhr genau gesagt, so lange dauert ein Unterrichtstag im „Lernhaus“, Mittagessen vor Ort inklusive. „Wir haben eine sehr individuelle Betreuung und ein breites Angebot an Themen, das ist in Berlin in dieser Form relativ selten“, sagt Nikola Amrhein. Sieben Lehrer und zwei Sozialpädagogen kümmern sich um die Schüler, die entweder übers Jobcenter, über andere Träger oder schlicht über Empfehlung auftauchen.

Corona war ein Problem

Corona war natürlich ein Problem. „Eine Herausforderung“, sagt Nikola Amrhein. Die wenigsten Schüler haben einen PC zu Hause, sie könnten ihn teilweise auch gar nicht bedienen. Außerdem ist gerade für Menschen, die aus schwierigen sozialen Verhältnissen kommen, persönliche Ansprache und Betreuung enorm wichtig. Im „Lernhaus“ lernen die Schüler ja auch, wie man seinen Tagesablauf strukturiert. 

„Die Lehrkräfte haben jeden Tag mehrfach mit ihren Schülern und Schülerinnen telefoniert, sie waren ständig für Fragen erreichbar“, sagt Nikola Amrhein. „Zudem haben wir Papiere verschickt.“ Der Ablauf war von vornherein als Schadensbegrenzung definiert, der Aufwand konnte ja keinen regulären Unterricht komplett ersetzen. „Aber es hat ganz gut geklappt“, sagt Nikola Amrhein. „Ganz gut“, das bedeutet übersetzt aber auch, dass einige Schüler doch abgesprungen sind, sie waren mit der Situation schlicht überfordert.

Monica Tedescu nicht, natürlich nicht. Eine Frau, die sagt, „der Tag, an dem ich hier 2015 meine erste Unterrichtsstunde erlebt habe, war mein zweiter Geburtstag“, so eine Frau gibt nicht auf.

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Ihre schwarzen Haare fallen über die Schultern der 41-Jährigen, sie hat sich in einer Unterrichtspause auf einem Sofa niedergelassen und erzählt die klassische Geschichte einer verlorenen Jugend. Bis 2003 lebte sie in Rumänien, fünf Jahre Schule, mit Unterbrechungen allerdings. Wenn sie mal wieder auf ihre kleine Schwester aufpassen musste, fiel die Schule halt aus für sie. Na und? War ihrem Vater doch egal. Der hatte schon früh gesagt: „Mädchen brauchen keine Bildung, sie heiraten später ja ohnehin.“

Als Monica Tedescu nach Deutschland kam, konnte sie weder lesen noch schreiben, hatte nie einen Beruf erlernt und stand ratlos vor den Zahlen im Supermarkt, die sie nicht lesen konnte. Vor jedem Behördengang schwitzte sie aus Angst, etwas falsch zu machen.

Die frühere Analphabetin ist jetzt selbstbewusster

Jetzt kann sie bis 100 zählen, einen einfachen Brief schreiben und Passwörter eingeben. Sie hat den intellektuellen Rückstand zu ihren drei Kindern etwas verringert. Ihre älteste Tochter ist 16 und geht in die elfte Klasse eines Gymnasiums. „Ich möchte, dass meine Kindern so viel Bildung wie möglich erhalten“, sagt die Mutter. „Ich möchte nicht, dass sie so bestraft werden, wie ich bestraft wurde.“

Monica Tedescu, die im Supermarkt Warenhinweise und die Briefe von Behörden lesen kann, geht jetzt „erheblich selbstbewusster“ durch den Alltag. „Ich weiß jetzt viel mehr als früher.“ Etwas weniger Wissen genügte manchmal allerdings auch, denkt ihr zehnjähriger Sohn in bestimmten Situationen. Die Mutter lacht, wenn sie davon erzählt. Sie kann jetzt lesen, was die Schule schreibt, auch die schlechten Nachrichten. Sie unterschreibt jetzt nicht mehr bloß krakelig wie früher. „Irgendwann mal“, sagt die Mutter, „wird mir mein Sohn dankbar dafür sein.“
*Die Namen der Schülerinnen und Schüler sind geändert.

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