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Eine Demonstrantin trägt eine Maske auf dem Hinterkopf am Rande der Demo auf dem Rosa-Luxemburg-Platz.

© Christoph Soeder/dpa

„Hygienedemo“ am 1. Mai: Verschwörungstheorien zum Coronavirus – und ein Streit um Bill Gates

Mit der „Hygienedemo“ wollten die Anhänger des Irrsinns auch den 1. Mai in Berlin zu ihrer Bühne machen. Die Konfrontation mit der Polizei ist Programm.

Seit Wochen provozieren sogenannte „Hygienedemos“ Großeinsätze der Polizei. Die Verschwörungsgläubigen vermuten hinter Maßnahmen wie der Maskenpflicht den Beginn einer „Neuen Weltordnung“ und rufen in Chatgruppen zum Widerstand auf. Die Bewegung ist längst zum Selbstläufer geworden und radikalisiert sich immer weiter.

Hinter der Coronakrise verberge sich der „Zusammensturz des Finanzmarktkapitalismus wie wir ihn kannten“, sagt Anselm Lenz im Interview mit dem ehemaligen RBB-Moderator Ken Jebsen. Der Staat habe sich mit Pharma- und Digitalkonzernen verbündet, um die Demokratie abzuschaffen, sagt Lenz.

Dieser blasse Mann mit Brille und Rollkragenpulli hat mit solchen Aussagen eine wütende Protestwelle losgetreten. Gemeinsam mit einem anderen eher unscheinbaren Herrn, seinem Mitstreiter Hendrik Sodenkamp. Beide waren in den letzten Jahren vor allem am Theater aktiv.

Die Berliner Kulturszene distanziert sich von Lenz, Sodenkamp und dem Geist, den die aus der Flasche ließen. Sowohl der Volksbühnen-Intendant Klaus Dörr als auch die ehemaligen Volksbühnen-Besetzer der Initiative „Staub zu Glitzer“ wiesen Versuche zurück, das renommierte Theater für die „Hygienedemos“ zu vereinnahmen.

Als die Facebook-Seite des „Demokratischen Widerstands“ kürzlich behauptete, für den 1. Mai eine Aktion „zusammen mit dem Zentrum für Politische Schönheit“ (ZPS) geplant zu haben, widersprach das ZPS sofort. Offenbar gab es keine Absprache. Inzwischen ist die Facebook-Seite offline, auch in einer angeschlossenen Gruppe und einem Chat ist kaum etwas los. 

Verschiedene Gruppen versuchen, das "Corona-Regime" zu stürzen

Den Rabatz machen jetzt andere. Verschiedene Telegram-Chatgruppen, die der Tagesspiegel einsehen konnte, versuchen momentan, den Widerstand gegen das „Corona-Regime“ zu organisieren. Doch das ist offenbar nicht immer einfach, denn es mangelt ein wenig an Disziplin.

Eine Frau sitzt am Rande einer Demonstration umringt von Polizisten auf der Straße. Die Gruppe "Demokratischer Widerstand" wollte auf dem Rosa-Luxemburg-Platz gegen die strikten Kontaktbeschränkungen in der Coronakrise demonstrieren.
Eine Frau sitzt am Rande einer Demonstration umringt von Polizisten auf der Straße. Die Gruppe "Demokratischer Widerstand" wollte auf dem Rosa-Luxemburg-Platz gegen die strikten Kontaktbeschränkungen in der Coronakrise demonstrieren.

© Christoph Soeder/dpa

Viele Teilnehmer posten lediglich YouTube-Videos oder provozieren andere Gruppenmitglieder mit Beleidigungen. Unterdessen versuchen verschiedene Grüppchen, ihre Themen in den Vordergrund zu rücken. Reichsbürger verbreiten ihre kruden Geschichtstheorien, während Impfgegner vor Mikrochips warnen, die der Microsoft-Gründer Bill Gates angeblich allen Menschen implantieren möchte. 

Mehr zum Thema:

Verschwörungstheoretiker wähnen Bill Gates hinter dem Virus

Gates gilt vielen „Hygienedemo“-Anhängern als Inbegriff des Bösen. Gates warnte bereits vor Jahren vor einer globalen Pandemie. Im Internet gibt es Videoclips von seinen Vorträgen zum Thema. Die Verschwörungstheoretiker interpretieren diese Aussagen jedoch etwas anders. Sie glauben, darin einen Beweis dafür entdeckt zu haben, dass Gates hinter allem steckt.

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Ein Demonstrant wird von Polizisten mit Mundschutz am Rande der Demonstration am Rosa-Luxemburg-Platz abgeführt.
Ein Demonstrant wird von Polizisten mit Mundschutz am Rande der Demonstration am Rosa-Luxemburg-Platz abgeführt.

© Christoph Soeder/dpa

Die Warnungen des Microsoft-Gründers erscheinen ihnen als Vorhersagen, mit denen sich der angebliche Täter gewissermaßen selbst verrät. Die Schlussfolgerung: Gates müsse das Coronavirus in die Welt gebracht haben. Warum? Da gehen die Ansichten auseinander. Vielleicht als Biowaffe? Oder um einen teuren Impfstoff verkaufen zu können? Oder um die Weltbevölkerung zu reduzieren? So genau weiß das keiner.

Ken Jebsen war schon bei den "Montagsmahnwachen"

Vieles an der „Hygienedemo“-Bewegung erinnert an die so genannten „Montagsmahnwachen“, bei denen vor ziemlich genau sechs Jahren Esoteriker, Altlinke und Reichbürger am Brandenburger Tor für den Weltfrieden demonstrierten. Auslöser war damals die Ukraine-Krise. Die Initiatoren sahen sich selbst als neue Friedensbewegung, die „weder links noch rechts“ sei. Und nahmen es hin, dass auf den Veranstaltungen Antisemitismus und Hetze verbreitet wurden.

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Ken Jebsen war seinerzeit ein regelrechter Stargast auf diesen Veranstaltungen, heute begleitet er die „Hygienedemos“ nicht nur wohlwollend mit seinem Medienportal. Er nahm auch selbst mehrfach teil. Und er ist nicht der einzige Wiederkehrer. Lars Günther gehörte 2014 zu den ersten, die sich bei den Montagsmahnwachen engagierten. Der bullige Mann verteilte vor allem Werbung für das rechte Verschwörungsmagazin „Compact“ von Jürgen Elsässer.

Die Protestierenden verstoßen mit Absicht gegen die Eindämmungsverordnung

Ab 2015 organisierte Günther Demonstrationen gegen Flüchtlinge im Osten Brandenburgs, an denen auch Neonazis teilnahmen. 2017 wurde er als AfD-Kandidat in den Stadtrat seines Wohnortes Bad Freienwalde gewählt. Bei der Landtagswahl 2019 zog er per Direktmandat in den Brandenburger Landtag ein. Am vergangenen Samstag präsentierte sich Günther schließlich im blauen Sakko auf dem Rosa-Luxemburg-Platz.

Doch es gibt einen Unterschied: Die “Mahnwachen” hatten zwar bizarre Gäste, verliefen aber friedlich. Bei den „Hygienedemos“ ist die Konfrontation mit der Polizei programmiert. Die Demonstranten verstoßen gegen die Eindämmungsverordnung, was sie als zivilen Ungehorsam betrachten.

[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden.]

Wenn die Polizei dagegen vorgeht, sehen sie das als staatliche Willkür an. Und als Beweis für den Aufbau eines Corona-Polizeistaats. Außerdem lassen spontane Sprechchöre wie „Wir sind das Volk!“ oder „Widerstand!“ vermuten, dass zumindest ein Teil der Teilnehmer bereits Erfahrungen von anderen rechtsgerichteten Demonstrationen mitbringt. Folgerichtig radikalisieren sich die „Hygienedemos“. Wohin das führen könnte, ist vollkommen offen.

Anselm Lenz sucht Sponsoren für seine Zeitung

Und was macht Anselm Lenz, während seine vorgebliche „Revolution“ im Irrsinn versinkt? Er versucht, die Massen um sich zu scharen. Und zwar, etwas altmodisch, mithilfe einer gedruckten Zeitung. Jede Woche würden 380.000 Exemplare gedruckt und bundesweit verteilt, behauptet er gegenüber dem sichtlich begeisterten Jebsen.

Das Interview wurde am Donnerstag aufgenommen, unmittelbar nachdem Lenz und seine Freunde eigenen Angaben zufolge bündelweise Zeitungen am Rosa-Luxemburg-Platz verteilt hatten. Die sind zwar gratis, aber Druck ist teuer. Um die Produktion auch in Zukunft finanzieren zu können, bittet Lenz daher um Spenden. „Wir brauchen jede Woche um die 10.000 Euro“, schätzt er und scheint zu glauben, dass er die für eine Weile bekommen könnte.

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