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Justizsenator Thomas Heilmann.

© Thilo Rückeis

Flüchtlinge in Berlin: Heilmann: "Wir werden an eine Grenzbelastung kommen"

Justizsenator Thomas Heilmann (CDU) spricht im Interview über die Unterbringung von Flüchtlingen, Voraussetzungen für ihre Integration und notwendige Abschiebungen.

Herr Heilmann, der CDU-Landesvorstand sieht Berlin bei der Unterbringung von Flüchtlingen an der Grenze der Belastung. Bei der Bundeskanzlerin war von solchen Grenzen noch nicht die Rede.

Wir unterstützen die Bundeskanzlerin uneingeschränkt. Mit der Kontingentlösung will sie eine schnelle Entlastung. Das ist europapolitisch der richtige Weg, und es ist auch richtig, dass wir das bei allen Schwierigkeiten freundlich und zugewandt machen.

Wie viele Flüchtlinge werden in Berlin monatlich unterzubringen sein?

Momentan kommen pro Woche 3000 Flüchtlinge. Wenn das so weiter geht, und wir haben keine Anzeichen dafür, dass dem nicht so sein sollte, dann haben wir bis Mitte kommenden Jahres weitere 90000 Flüchtlinge in der Stadt. Wir brauchen das Drei- bis Vierfache von dem, was wir jetzt haben, an Notunterkünften. Wir greifen jetzt schon in einem unguten Maß auf Turnhallen zurück.

Der Regierende Bürgermeister Michael Müller sieht das offenbar anders.

Mag sein, aber schon Teile seiner eigenen Partei stehen dabei nicht hinter ihm. Die SPD-Bürgermeisterin aus Neukölln hat mitgeteilt, Sporthallen stelle sie nicht mehr zur Verfügung. Bis Mitte 2016 biete der Bezirk 2260 Plätze an. Das wird aber nicht reichen.

Glauben Sie, dass Müller die Probleme unterschätzt?

Die Notunterbringung ist nur der erste Schritt. Anerkannte Flüchtlinge dürfen wohnen, wo sie wollen. Auf Deutsch: Da kommt mutmaßlich noch mal eine große Zahl von Flüchtlingen in die Großstädte und auch nach Berlin. Der Regierende Bürgermeister sagt: „Berlin kann das alles leisten.“ Natürlich müssen und wollen wir helfen. Aber ich sehe erhebliche Probleme auf die Stadt zukommen. Wir können nicht mit den bisherigen Instrumenten der Integration arbeiten, wenn die Zahl der Flüchtlinge sich vervielfacht.

Was sind „erhebliche Probleme“?

Das geht bei den Behörden los. Anerkannte Flüchtlinge werden sich an die Bezirksämter wenden, denn viele haben weder eine anerkannte Ausbildung noch einen Arbeitsplatz noch eine Wohnung. Es gibt Sprachdefizite und wir müssen viele tausend Kinder zusätzlich im Schulsystem unterbringen. Ich kenne eine Hochrechnung, der zufolge wir im übernächsten Schuljahr 70000 zusätzliche Schüler haben. Das halte ich für alles andere als einen Spaziergang. Deshalb finde ich die Bemerkung über die Abschiebungen völlig verfehlt…

Wessen Bemerkung?

Müllers Bemerkung, manche würden sich „besoffen“ reden am Thema Abschiebung. Ganz unabhängig vom Stil, das geht komplett an der Sache vorbei: Angesichts der Flüchtlingszahlen müssen wir uns auf die wirklich Schutzbedürftigen konzentrieren. Die Union sagt: Wir kümmern uns, aber wir wollen eine erhebliche Reduzierung, auch im Interesse der Flüchtlinge. Denn schön ist das Leben in einem Flugzeughangar sicher nicht.

Aber die Zahlen der Flüchtlinge vom Westbalkan gehen zurück.

Das schon, aber Sie dürfen nicht vergessen, dass wir jetzt schon mehr als 10000 Menschen aus dieser Gegend hier in Berlin haben.

Und die wollen Sie jetzt abschieben?

Abschiebungen haben doch mehrere Aspekte. Erstens sind die Abgeschobenen nicht mehr da. Zweitens erhöht Abschiebung deutlich die Rückkehrbereitschaft. Drittens führt Abschiebung in den Herkunftsländern zu einer stärkeren Zurückhaltung. Und ob Sie dann in zwei Jahren 70000 Schüler mehr haben oder 45000, macht für die Schulen durchaus einen Unterschied.

Wie viele Menschen sollten aus Berlin abgeschoben werden? Sie sprachen eben von allein 10000 Leuten vom Westbalkan…

Wir haben keine gesicherte Datenlage, das macht eine genaue Auskunft schwierig. Die Zahlen mögen prozentual zurückgegangen sein, aber in absoluten Zahlen reden wir immer noch über mehrere tausend Menschen, die bundesweit jede Woche aus dem Balkan kommen.

Wie groß ist das Problem mit den gefälschten Pässen?

Es gibt zwei Probleme: Das eine sind die gefälschten Pässe. Das andere ist: Wir haben glaubwürdige Berichte, dass syrische Konsulate im Ausland gegen Geld echte syrische Pässe ausstellen. Das sind dann echte, amtliche Dokumente mit falschen Angaben.

Welche Möglichkeiten gibt es, falsche Angaben zur Identität festzustellen?

Sprachmittler beim Bundesamt für Migration führen Interviews mit Flüchtlingen. Wer sich als Syrer ausgibt, aber die zweite Frage auf Arabisch nicht versteht, hat ein Glaubwürdigkeitsproblem. Die Interviews gab es eine Weile nicht, werden aber jetzt wieder gemacht.

Sie wollen die Asylverfahren verkürzen. Wie soll das gehen?

Wir müssen das ganze Procedere drastisch vereinfachen. Ich halte es für falsch, dass man bei jeder Polizeidienststelle, in jeder Kommunal- oder Bundesbehörde Asyl beantragen kann. Das führt dazu, dass wir in Deutschland fünfhundert verschiedene Aufnahmeverfahren haben – wenn die Zahl reicht. Deshalb haben wir nicht mal verlässliche Zahlen, wie viel Leute überhaupt da sind. Nur der Bund sollte die Erstregistrierung durchführen.

Und der Familiennachzug bei den Syrien-Flüchtlingen?

Ich halte das für eine Scheindebatte. Erstens gibt es noch gar nicht so viele Anträge. Zweitens haben die, die in Syrien gefährdet sind, ein eigenes Asylrecht, die können ohnehin kommen. Was wir brauchen, ist eine europaweit geordnete Aufnahme der Flüchtlinge und eine drastische Reduzierung der Antragszahlen.

Über das ICC hieß es vor Monaten, das stehe als Unterkunft nicht zur Verfügung, unter anderem wegen des Brandschutzes. Jetzt geht es. Über Tempelhof hieß es, ein Flüchtlingslager dort werde zu einer unüberschaubaren Favela. Gibt es dort eine Höchstgrenze für die Aufnahme?

Es gibt eine Faustformel, die besagt, dass eine Einrichtung nicht mehr als 3500 Leute aufnehmen solle. Allein in den Hangars in Tempelhof werden doppelt so viele Menschen unterkommen. Aber wir haben keine andere Wahl. Alle Kommunen und auch das Land Berlin werden an eine Grenzbelastung kommen, die wir alle uns nicht vorstellen können. Das muss man der Bevölkerung in dieser Klarheit sagen.

Und wohin gehend soll das Asylrecht geändert werden?

Für den wichtigsten Ansatz müssen wir keine Gesetze ändern, sondern brauchen eine Vereinbarung mit unseren Partnern in der EU und den Anrainerstaaten. Wir müssen das System „Erst kommen, dann fragen“ umdrehen in „Erst fragen, dann kommen“.

Wo sollen die Flüchtlinge denn fragen?

Vor allem in der Türkei oder in den Hotspots an den EU-Außengrenzen. Wir sagen ja nicht den Syrern: Bleibt in Syrien. Das gab es schon: die Dublin-Regelung. Dublin hat schon lange nur schlecht funktioniert. Sie erinnern sich an die Flüchtlinge vom Oranienplatz vor zwei Jahren. Die gehörten nach Italien. Das hat schon damals nicht geklappt. Wir brauchen mehr Gerechtigkeit bei der Verteilung der Flüchtlinge, damit wir diejenigen schützen können, die den Schutz am Dringendsten brauchen. Das liberale Schweden hat seine Asylgesetze ja auch nicht ohne Grund verschärft.

Die CDU verliert an Zustimmung, Frau Merkel an Vertrauen. Die AfD wird in Umfragen zur drittstärksten Partei. Fürchten Sie, dass die Stimmung kippt?

Ich glaube, die Stimmung ist differenzierter, und sie wird auch differenziert bleiben. Die Leute wollen Mitgefühl und Ordnung. Eine Ordnung ohne Mitgefühl ist ein kalter Staat, den auch ich nicht will. Umgekehrt ist Mitgefühl ohne Ordnung der Weg ins Chaos. Nein, ich glaube nicht, dass die Stimmung kippt. Entscheidend dafür ist allerdings, dass wir uns mit den Sachthemen beschäftigen.

Erwarten Sie die AfD im nächsten Abgeordnetenhaus?

Nach heutigem Stand ja. Ich finde das nicht gut, aber die Welt geht davon nicht unter. Das hält die Demokratie aus.

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