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Berlin: Frieda Krause (Geb. 1928)

Vielleicht hatte sie ihn einmal geliebt, doch, bestimmt hatte sie das

Friedas Frühstück früh um halb sieben: Spiegeleier, saure Gurken, Leberwurst, Brot und viel Butter. Sie hat Hunger. Ein Brötchen mit Marmelade? „Stadtschnickschnack“, sagt sie, schiebt Holzscheite in den Herd, knallt eine Pfanne auf die eiserne Platte, schlägt drei Eier hinein, drückt das Brot an ihren Busen, schneidet dicke Scheiben, lässt sich auf das geblümte Sofa unterm Küchenfenster fallen und beginnt zu essen.

Frieda ist um vier aufgestanden. Sie steht immer um vier auf. Im Sommer, im Winter, zu ihrem Geburtstag, zu Weihnachten. Denn für die Kühe sind alle Tage gleich. Sie müssen gefüttert und gemolken werden, der Mist muss aus den Ställen, frisches Heu muss rein. Die drei Zeiger auf Friedas Wecker stehen seit Jahren schon exakt auf der 12, wahrscheinlich hatte Jochen, ihr Jüngster, als er damals mit Mumps in ihrem Bett liegen durfte, an der Uhr herumgestellt. Frieda braucht kein Zifferblatt, kein Klingeln. Pünktlich schlägt sie die Augen auf und die Decke zurück und schleicht sich hinaus, die Treppe hinunter, steigt über die zweite und die fünfte Stufe, die beide knarren und läuft die Dorfstraße hinab bis zu den Ställen der LPG.

Natürlich weiß sie, wie es in der Stadt aussieht, in der Kreisstadt, ein paar Kilometer entfernt, in die sie mit dem Bus zum Friseur fährt. Aber sie kennt auch die große Stadt, ist schon die breiten Berliner Bürgersteige entlangspaziert und hat sich in ein schickes Café gesetzt, in dem weißen Kostüm, zu dem ihr die passenden Schuhe fehlen. Die Partei hat ihr die Reise geschenkt, für ausgezeichnete Leistungen in der Landwirtschaft. Zig Mal hatte sie diese roten kunstledernen Mappen überreicht bekommen, auf denen in Gold die Worte „Verdienter Aktivist“ eingeprägt waren. Hatte sich jedes Mal aufrichtig gefreut, selbst über die fünf rosa Nelken, die in ihren Vasen so verloren wirkten.

Seit Kurt gestorben ist, sagt ihre Älteste, Annegret, die jetzt in der großen Stadt lebt, immer öfter: „Komm doch nach Berlin, wir finden bestimmt eine hübsche Wohnung für dich.“

Sie hatte überhaupt nicht mehr aufgehört zu weinen, damals, an Kurts Grab, hatte noch geweint auf dem Weg zur Gaststätte und über der Suppe, die man den Trauergästen zuerst brachte. Beim Braten wurde es weniger, und als das Kompott vor ihr stand, begriff sie, dass sie einen Teil der Tränen aus Erleichterung geweint hatte. Aus Erleichterung, diesen stummen Mann nicht mehr in seiner Küchenecke sehen zu müssen, wenn er mit seinem Traktor vom Feld gekommen war. Aus Erleichterung, ihn nicht mehr Nacht für Nacht neben sich im Bett zu spüren. Vielleicht hatte sie ihn einmal geliebt, doch, bestimmt hatte sie das, warum sollte er ihr sonst aufgefallen sein unter den anderen Männern. „Dein Vater war letztendlich doch der Richtige“, sagt sie zu Annegret.

Es kommt der Tag, da sie nicht mehr in die Kuhställe muss. „Genießen Sie ihre Zeit“, sagt der LPG-Vorsitzende und überreicht ihr fünf rosa Nelken. Frieda geht nach Hause und füttert die Kaninchen. Sie putzt alle Fenster, sie wischt die Böden, sie schaltet den Fernseher ein und wieder aus. Und eines Morgens holt sie ein Glas Marmelade aus dem Schrank und bestreicht damit ein Brötchen.

„Annegret“, fragt Frieda zaghaft am Telefon, „wenn es dir immer noch nichts ausmacht ... ?“

Die Zimmer der neuen Wohnung in Berlin sind hell, und um ein Bad zu nehmen, muss Frieda nur den Hahn aufdrehen. Sie kauft sich weiße Schuhe und setzt sich in ein Café. Sie geht zum ersten Mal in ihrem Leben ins Theater.

Aber ihre Geburtstage feiert sie jedes Jahr in ihrem alten Dorf, lädt die Familie und die ehemaligen Nachbarn ein und spät, wenn alle gegangen sind, läuft sie allein hinunter zu den Ställen, die schon lange nicht mehr der LPG gehören und horcht auf die Geräusche im Inneren.

Im April 2013 stirbt Frieda an Herzversagen. Tatjana Wulfert

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