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Insgesamt wurden in Bussen und Bahnen mit 294 Sexualstraftaten 2017 fast doppelt so viele Taten wie 2016 angezeigt.

© Paul Zinken/dpa

Exhibitionismus in Berliner S-Bahn: „Es ist scheiße, aber es ist ja nichts passiert“

Als er mich sah, fing der Mann in der S-Bahn an, sich zu befriedigen. Die Reaktionen von Zeugen und Polizei, aber auch die eines Bekannten sind verstörend. Ein Erfahrungsbericht.

Wir leben im Jahr 2018. 100 Jahre nach der Einführung des Frauenwahlrechts, 50 Jahre nach der sexuellen Revolution und ein Jahr nach #metoo. Kurz: In einer fortschrittlichen Zeit. Sexuelle Belästigung von Frauen wird heutzutage als Problem erkannt und geahndet, hoffte ich bisher. Diese Woche erlebte ich vielmehr Gleichgültigkeit.

Am Donnerstagmorgen saß ich auf einer Bank in der S2 – alleine. Schräg gegenüber fiel mir ein Mann mit roter Baseball Cap und in Tarnfarben-Hose auf. Seine Hand hielt er in seinem Schritt. Ich bemerkte, dass er an den Knöpfen herumspielte, dachte mir aber nichts dabei. Als mein Blick ihn das nächste Mal streifte, blickte er mir in die Augen, zog sein Glied aus dem Hosenschlitz und fing an, sich selbst zu befriedigen. Dabei blickte er mir weiter in die Augen und lächelte.

Meine erste Reaktion: Schock. Und der Gedanke „Sehe ich richtig?“. Dann, Sekunden später, zeige ich ihm den Mittelfinger und fange an zu schreien „Du Wichser“. Ironischerweise habe ich das Wort nie treffender benutzt. Der Mann steht sogleich auf, geht zur Tür und steigt einen Moment später an der Friedrichstraße aus. Nun stehe ich auch auf und schreie auf ihn deutend hinterher: „Der Mann hat mir seinen Penis gezeigt. Der Mann mit der roten Mütze.“ Ich bleibe in der Bahn und fahre weiter.

Warum unterstützt mich niemand in dieser Situation?

Die Menschen am Bahnsteig hatten entsetzt geblickt – nicht zu dem Mann, sondern zu mir. Ich muss auf sie gewirkt haben wie eine Irre. Verständlich, auch für sie war die Situation überwältigend. Was ich nicht verstehe, ist, dass der Mann, der mir weiterhin in der Bahn am nächsten sitzt, aufgrund seiner Position zwar nichts sehen konnte, aber meine Rufe mitbekommen hatte, die ganze Zeit weiter in sein Handy starrt. Auch die Frauen im Wagon blicken sich nur kurz zu mir um und verfolgen dann wieder ihre Gespräche.

Warum kommt niemand und fragt: „Was ist denn passiert?“ oder „Ist alles ok?“ Warum unterstützt mich niemand in dieser Situation? Ich fühle mich im Stich gelassen. Auch als ich einen Freund direkt nach der S-Bahnfahrt anrufe und ihm von der Tat berichte, sind seine Worte: „Es ist scheiße, aber es ist ja nichts passiert.“

Nichts passiert? Es ist passiert, dass ich seit der Begegnung nicht mehr normal S- und U-Bahn fahren kann. Ständig schaue ich den Männern auf die Beine, beobachte, was sie mit ihren Händen machen und blicke mich nach dem Mann mit der roten Mütze um. Ich achte nun darauf, nicht alleine auf einer Bank zu sitzen. Es ist passiert, dass ich mich in Berlin ein Stück weit weniger wohlfühle. Warum sagt der Freund nicht: „Dieses Schwein, wie kann er dir sowas antun“?

Am Nachmittag gehe ich zur Polizei. Ich erstatte Anzeige. Auch den Notruf habe ich gleich nach der Tat, nachdem ich mit dem Freund gesprochen hatte, gewählt. Ich bat die Polizistin am Telefon, an der Friedrichstraße von Streifenpolizisten nach dem Mann Ausschau halten zu lassen. Ihre verdutzte Antwort: „Das können wir nicht machen“.

Hier (und auch bei anderen unschönen Dingen, die so im öffentlichen Raum passieren) würde ich begeistert sein, wenn Männer einfach mehr öffentlich zeigen, dass sie das nicht als Petitesse sehen, sondern ebenfalls angewidert sind.

schreibt NutzerIn Charybdis66

Ich weiß, dass ich kein Einzelfall bin

Kann die Polizei dies wirklich nicht machen oder wird sexuelle Belästigung von Frauen einfach nur nicht als wichtig genug eingestuft? Ich weiß, dass ich kein Einzelfall bin. Im Internet finden sich zahlreiche Erfahrungsberichte von Frauen, die dasselbe erlebt haben. Auch sie beschreiben, dass sie danach nicht mehr unbeschwert mit dem ÖPNV fahren können. Müsste nicht also die Polizei mehr unternehmen, um diese Frauen zu schützen?

Ich bin davon überzeugt, dass der Mann, der mich belästigt hat, Profi ist. Die Baseball Cap zum Schutz des Gesichts vor Wiedererkennung, die Sitzposition, die er ausgewählt hat, damit ihn niemand sehen kann. Die routinierte Handbewegung an seiner Hose. Der Mann hat an diesem Tag, vermute ich, nicht nur mich belästigt.

Auf der Anzeige, die ich aufgebe, steht als Delikt nicht „sexuelle Belästigung“, sondern „exhibitionistische Handlung“. Für mich ist dies eine Verharmlosung. Der Mann hat es darauf angelegt, dass ich seine Selbstbefriedigung sehe. Er hat erst damit begonnen, als er meiner Aufmerksamkeit sicher war.

Die Polizistin, die meine Anzeige aufnimmt, ist nett. Sie stellt einfühlsame Fragen und hört aufmerksam zu. Was mich beunruhigt, ist, dass sie meine Aussage handschriftlich auf einem Schmierzettel notiert. Sie verspricht, die Videoaufzeichnung an der Friedrichstraße anzufordern. Vielleicht ist der Täter darauf zu identifizieren. Dann fragt sie noch bei der Kripo, ob diese ergänzend mit mir sprechen möchte – kein Bedarf.

Nach der Anzeige gehe ich mit gemischten Gefühlen aus dem Revier. Die Polizistin war verständnisvoller als erwartet. Doch dass die Tat ernsthaft verfolgt wird, glaube ich nicht. Bei mir bleibt das Gefühl zurück: Sexuelle Belästigung von Frauen ist auch im Jahr 2018 immer noch nicht wichtig genug – für die Polizei und für Mitfahrer in der S-Bahn.

294 Sexualstraftaten in Bussen und Bahnen

„Exhibitionistische Handlungen“ (Paragraf 183) und „Sexuelle Belästigung“ (Paragraf 184i) sind laut Strafgesetzbuch zwei unterschiedliche Delikte.

Sexuelle Belästigung

2016 wurde § 184i neu aufgenommen: „Wer eine andere Person in sexuell bestimmter Weise körperlich berührt und dadurch belästigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ Voraussetzung für die Strafbarkeit ist also eine Berührung. Sexuelle Belästigung wurde 2017 in Berlin 498 Mal angezeigt. Zuvor war „Grabschen“ als „Beleidigung auf sexueller Grundlage“ eingestuft. Dieses Delikt wurde 2017 noch 694 Mal erfasst, 45 Prozent weniger als im Jahr 2016. Das Sexualstrafrecht war nach den massenhaften Übergriffen auf Frauen vornehmlich durch Männer aus dem nordafrikanischen und arabischen Raum Silvester 2015 verschärft worden.

Exhibitionismus

Exhibitionismus ist so definiert: „Ein Mann, der eine andere Person durch eine exhibitionistische Handlung belästigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.“ Es ist übrigens die einzige Straftat, die nur Männer begehen können. Voraussetzung für die Strafbarkeit ist, dass sich das Opfer belästigt fühlt. Reagiert die Frau desinteressiert oder belustigt, kann ein Exhibitionist nicht bestraft werden. Die Polizei registrierte 2017 in Berlin 586 Taten, 65 mehr als im Vorjahr.

Sexualstraftaten im ÖPNV

Insgesamt wurden in Berliner Bussen und Bahnen mit 294 Sexualstraftaten 2017 fast doppelt so viele Taten wie 2016 angezeigt (156). Die Polizei erklärt dies mit der Änderung des Sexualstrafrechts. 40 Prozent dieser Taten waren exhibitionistische Handlungen.

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