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Besucher tummeln sich auf dem Tempelhofer Feld.

© imago images / Hoch Zwei Stock/Angerer

Essay zu Berlins Digitalwirtschaft: Ein deutsches Stanford

Berlin könnte für Europa werden, was Stanford für Amerika ist: Zentrum der Digitalwirtschaft. Dafür müsste sich die SPD stärker einbringen. Wird sie das?

[Der Gastautor: Nils Heisterhagen arbeitet als Publizist und war Grundsatzreferent der SPD-Landtagsfraktion in Rheinland-Pfalz. Dieser Beitrag ist Teil seines Buches „Das Streben nach Freiheit“, das im Dietz Verlag erschienen ist. Der Beitrag wurde zuvor im „Cicero“ veröffentlicht.]

Ganz in der Nähe des Bahnhofs Friedrichstraße findet sich das Kulturkaufhaus Dussmann. Diese große Buchhandlung ist die erste Adresse des politischen Berlins auf der Suche nach neuestem Lesestoff. In der obersten Etage befindet sich eine Auswahl neuester politischer Erscheinungen und Klassiker. Man sieht dort öfter politische Referenten und politisch Interessierte versunken herumlaufen.

Seit geraumer Zeit findet man dort aber noch etwas: Ein ganzes Wandregal nur mit Büchern zur Digitalisierung. Das ist wahrscheinlich einmalig für eine Buchhandlung in Deutschland. Auf den zweiten Blick verwundert das weniger. Wenn es in Deutschland eine Stadt gibt, die eine Start-up-Kultur pflegt, und sich zum Zentrum eines deutschen Silicon Valleys entwickelt hat, dann ist es Berlin.

Laut einer Analyse der Investitionsbank Berlin boomt die Berliner Digitalwirtschaft. Umsatz und Beschäftigung stiegen zuletzt kräftig an. Auch der Gesamttrend macht die Bedeutung der Digitalwirtschaft für Berlin deutlich: „So wurden im Zeitraum 2008 bis 2017 in Berlin 338.155 neue Beschäftigungsverhältnisse geschaffen. Davon entfielen 47.397 auf die Digitalwirtschaft. Somit sind 14,0 Prozent aller neuen Arbeitsplätze – jeder 7. Berliner Job – in der Digitalwirtschaft entstanden“, heißt es bei der Investitionsbank Berlin.

International bekannte Start-Ups prägen langsam ein neues Ökosystem in der Hauptstadt. Flankiert wird dies durch Projekte wie die „Factory Berlin“, die versuchen, das Denken des Silicon Valley in Berlin zu kultivieren.
Man sollte sich als Wirtschaftspolitiker im Bund allerdings davor hüten, der Illusion zu erliegen, dass diese Digitalwirtschaft die einzige Zukunft für Deutschland ist. Denn dem ist nicht so. Der deutsche wirtschaftliche Strukturkonservatismus, den das deutsche Wirtschaftsmodell mit seinem Fokus auf Maschinen, Chemie, Elektroindustrie und Autoindustrie prägt, ist seit Jahrzehnten ziemlich konstant.

In Deutschland verbessert man seine Produkte und Prozesse immer weiter. Man erfindet zwar auch Neues. Aber das sind meist Innovationen, die etwas mit den genannten Branchen zu tun haben. „Schuster bleib bei deinen Leisten“, das ist für die deutsche Wirtschaft seit Jahrzehnten ein Erfolgsmodell. Es wäre irrsinnig, wollte man das nun alles über Bord werfen.

Industrie steht in der deutschen Wirtschaft im Zentrum

Deswegen wird in Deutschland auch zu Recht wenig von einer neuen „Revolution“ gesprochen und stattdessen eher von der Evolution der deutschen Industrie zu einer Industrie 4.0. Digitale Fabriken und digitale Produktion sind ein größeres Thema als die Frage danach, wann wir endlich ein deutsches Google und Facebook bekommen. Zuletzt hat auch der Journalist Patrick Bernau in der FAZ darauf hingewiesen, dass Deutschland als Roboterland Chancen innerhalb der Digitalisierung hat. Darin liegen die eigentlich zentralen digitalisierungspolitischen Fragen.

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Die Industrie steht in der deutschen Wirtschaft im Zentrum. Um diese wird sich deutsche Digitalpolitik also primär kümmern müssen. Es geht darum, dass die deutsche Industrie ihre international bedeutende Stellung wahren kann und es sogar zur Re-Industrialisierung kommt. Zudem steht die Frage im Raum, wie gute Arbeitsplätze in dieser digitalen Industrie gesichert werden können, sich aber auch weiterentwickeln müssen.

Darauf muss die Wirtschaftspolitik primär Antworten liefern. Vor allem dann, wenn die Politik mit aktiver Industriepolitik die Weichen stellt, besteht eine gute Chance, von der Digitalisierung zu profitieren. Aber eben auch nur dann. In Digitalisierungseuphorie sollte man angesichts der kommenden Herausforderungen jedenfalls nicht verfallen. Vor der deutschen Industrie liegt ein Wandel, darum sollte sich auch der wirtschaftspolitische Diskurs primär drehen.

Die erste Frage in der Debatte um Digitalisierung ist also nicht, wann wir endlich mehr disruptives Denken in den Köpfen hierzulande verankern, damit wir ein deutsches Facebook bekommen. Man sollte nicht so naiv sein, zu denken, dass eine Kopie des Silicon Valley der richtige Weg für das deutsche Wirtschaftsmodell sei.

Aber lassen wir diese Grundsatzfrage mal außer Acht und beschäftigen uns mit der Frage, was man eigentlich tun muss, damit überhaupt ein Ökosystem vergleichbar mit dem Silicon Valley in Deutschland entsteht. Und dann sind wir bei Berlin, weil Berlin für dieses Ökosystem die besten Chancen hat.

Der Campus des BIT sollte auf dem Tempelhofer Feld errichtet werden

Was tut eigentlich das Land Berlin dafür, um die Digitalwirtschaft zu entwickeln? Informiert man sich auf Berliner Behörden-Seiten, erfährt man, dass es zum Beispiel seit 2015 die „Berlin Startup-Unit“ gibt, die die Digitalwirtschaft in Berlin stärken soll. Des Weiteren gibt es einen bunten Strauß aus Förderprogrammen und Wettbewerben. Das ist sicher alles ganz nett. Ein deutsches Silicon Valley bekommt man aber so nicht. Das geht nur anders. Aber wie?

Die Antwort ist einfach: Ohne einen Zellkern kann die Zelle nicht wachsen, etwas muss im Zentrum stehen. Und im Fall des Silicon Valley ist es die Universität Stanford, die dieser Nukleus ist. Die Uni und ihr Campus sind der Kern des Ökosystems, ohne den es das Silicon Valley nicht gäbe. Das heißt: Ohne eine staatlich-öffentliche Infrastruktur gibt es kein digitales Ökosystem. Daraus sollte Deutschland lernen.

Deutschland braucht ebenfalls ein deutsches Stanford. Und das muss mit Geld des Staates finanziert und gegründet werden. Wo und wie? Mein Vorschlag: Man sollte die bisherige Technische Universität Berlin schließen und neu gründen. Auf Basis und Verwaltungsstruktur der Technischen Universität Berlin sollte eine neue Berliner Universität gegründet werden. Und zwar das BIT (Berlin Institut of Technology). Die MINT-Fächer und deren Institute der drei Berliner Universitäten sollen dafür ausgegliedert werden und in eine neue Universität überführt werden, die auf Basis der TU Berlin aufgebaut wird: Das BIT.

Das wird viel Geld kosten. Dazu werden fünf Milliarden Euro oder mehr in die Hand genommen werden müssen. Der Campus des BIT sollte auf dem Tempelhofer Feld errichtet werden. Das könnte dann ein Stanford 2.0 werden. So kann auch in Berlin ein Ökosystem entstehen und nach 15 Jahren dann ein Silicon Valley 2.0.

Wie viel Revolutionsgeist steckt noch in der SPD?

Wenn die Berliner Politik und der Bund sich zu dieser – hier mal in der Tat für deutsche Verhältnisse revolutionären – Maßnahme durchringen würden, würden sie eine wirtschaftspolitische Entscheidung für Generationen treffen. So ein revolutionärer Plan würde ohne Frage allzu schnell Nörgler auf den Plan rufen, denen das zu viel „Experimente“ sind. Angefangen bei der Ortsfrage auf dem Tempelhofer Feld – welches bekannterweise schon einmal nach einer Volksbefragung nahezu so belassen wurde, wie es war –, würden Kritiker aufstehen und die Umsetzbarkeit dieses Plans infrage stellen.

Aber mit Kritikern muss man immer rechnen. Mut und Vision erfordern zuweilen etwas Starrsinn und Hartnäckigkeit. Man muss schon etwas wagen. Wenn man nun zuletzt parteipolitisch denken darf: Für keine andere Partei ist dieser wirtschaftspolitische Plan zur „Gründung eines deutschen Stanfords“ so geeignet wie für die deutsche Sozialdemokratie, der es seit Jahren an linker Wirtschaftspolitik mangelt.

Ihre wirtschaftspolitische Ideenlosigkeit sollte enden. Eine Ideenlosigkeit, die von der Bevölkerung nicht länger unbemerkt bleibt, wie kürzlich erst ein ZDF-Politbarometer zeigte und der Bundes-SPD gnadenlos vor Augen führte, dass ganze neun Prozent in diesem Land ihnen noch „Wirtschaftskompetenz“ zutrauen. Für diese Sozialdemokratie wäre so ein Plan also wie gemacht, um zu zeigen, dass sie noch lebt. Als rote Null und als brave Verwaltungspartei braucht sie niemand. Deswegen sollte sich die SPD, allen voran der Berliner Landesverband, nach neuen Ideen umsehen.

Ein deutsches Stanford in Berlin wäre jedenfalls eine Idee. Eine durchaus disruptive, revolutionäre Idee dazu. Die einzige Frage ist nun noch: Wie viel Revolutionsgeist und wie viel Mut zu Neuem steckt noch in dieser SPD?

Nils Heisterhagen

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