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Berlin: Erika Falkenreck ( Geb. 1937)

Doch verlor sie kaum ein Wort über ihren Schmerz

Erika und ihre amerikanische Freundin Gretchen gingen zu einer Party in Washington D. C., beide Studentinnen, beide gleichaltrig, Erika in knappem Kleid und Pumps.

Vierzig Jahre später liefen sie wieder durch Washington, Erika in High Heels und Leggings. Dieses Mal sagte sie zu Gretchen: „Es wäre schön, du könntest in den Gesprächen ein bisschen vage bleiben. Die Leute dort müssen mein richtiges Alter nicht unbedingt erfahren.“

Ob 25 oder 65, sie liebte enge Röcke und Shorts, hohe Absätze und breite Gürtel. Ihre äußere Erscheinung entsprach ihrer inneren Vitalität. Als sie mit Mitte 60 aufhörte, an der Peter-A.-Silbermann- Schule, dem ältesten Abendgymnasium Deutschlands, Wirtschaftswissenschaften zu unterrichten, sprach sie davon, „zwangspensioniert“ worden zu sein.

Nie war sie der Typ Frau, der sich in der Zurückgezogenheit eines tadellos geputzten hübschen Heimes am wohlsten fühlt. Zumal ihr Zehlendorfer Haus nicht unbedingt den Normen der Nachbarn entsprach: ein gläsernes Oktogon, durchlässig für Licht und Blicke. Als sie noch verheiratet war, fanden in diesem Haus oft Feste statt. Einmal mietete sie ein Klavier, und alle Gäste, Sänger der Deutschen Oper, Professoren und Politiker, mussten etwas zum Vortrag bringen. Erika sang den Barbara-Song, ein Lied aus der Dreigroschenoper, das von einer Frau handelt, die stets „Nein“ zu den Männern sagt und dann doch „Ja“ zu dem einen Richtigen. Ein anderes Mal bemalten acht Geladene die acht Wände des Kellers mit ihren lebensgroßen Selbstporträts. Während einer Sommerparty mit linken Freunden aus den USA persiflierten Erika und ihr Mann Nancy und Ronald Reagan, sie mit geziertem Gehabe, er mit makellosem amerikanischen Lächeln.

Erika und Werner waren ein glamouröses Paar. Sie liebten es, zu reisen und Tennis zu spielen, versäumten kein wichtiges Jazzfestival, keine bedeutende Operninszenierung. Und trennten sich nach 25 Jahren, was niemand verstand, am allerwenigsten Erika selbst. Doch verlor sie kaum ein Wort über ihren Schmerz, nahm wieder ihren Mädchennamen an und tat wie immer, als hätte sie alles unter Kontrolle. Sie veranstaltete Feste, traf sich mit Freunden, schrieb lange E-Mails. Erzählte die Geschichte von dem Schwein, das ihre Mutter während des Krieges im Bad mästete und das ein Jahr später gegessen wurde. Und behauptete, ihre Kindheit im Ruhrgebiet sei eine bürgerliche gewesen, obwohl der Vater Bergmann war. Sie pflegte Freundschaften über Jahrzehnte und kündigte sie von einem Tag auf den anderen auf, weil jemand etwa seine Wohnung malerte und nicht sofort Zeit für sie hatte. Wenn die Frau, die im Theater die Programme verteilte, zu ihr sagte: „Lesen Sie das Heft gut, dann haben sie mehr vom Stück“, blaffte sie zurück: „Als kenne ich meinen Shakespeare nicht.“ Tatsächlich kannte sie ihren Shakespeare gut. Denn sie war die Gründerin des Fördervereins des „English Theatre Berlin“.

Und auch sonst immer und überall engagiert. Als die Ergebnisse der SPD bei den Bundestagswahlen 2009 ihren Tiefpunkt erreicht hatten, wurde Erika Sozialdemokratin. Ihr Fachgebiet war die Energiepolitik. Stundenlang saß sie in zähen Sitzungen, wochenlang vertiefte sie sich in Bücher zum Thema. Sie unterstützte Christoph Schlingensiefs Operndorf in Burkina Faso. Sie erreichte, dass der Film „Fritz Bauer – Tod auf Raten“, die Geschichte eines deutschen Staatsanwaltes, der während seiner Ermittlungen über NS-Verbrechen in die Netzwerke von Alt-Nazis gerät, im Bali-Kino aufgeführt wurde. Sie lud die Autorin der Biografie über Mildred Harnack-Fish, die in den dreißiger Jahren Englisch an der Peter-A.-Silbermann-Schule unterrichtet hatte und 1943 hingerichtet worden war, zu einem Gespräch mit den Schülern ein. Sie führte Gruppen durch das Scheunenviertel, warb um Spendengelder für das Holocaust-Mahnmal. Sie betreute im Rahmen eines Senatsprogramms jüdische Menschen, die während des Nationalsozialismus emigrieren mussten und für einen Besuch nach Berlin zurückkehrten.

1997 lernte sie so Beate Hammett kennen, die Tochter des Architekten Alexander Beer, der das Jüdische Waisenhaus in Pankow und die Jüdische Mädchenschule in der Auguststraße erbaut hatte und 1944 in Theresienstadt ermordet wurde. Am 20. April 2012, ein doppelbödiges Datum, konnte dank Erikas eine Gedenktafel für Alexander Beer an der ehemaligen Schule eingeweiht werden.

Wenige Wochen danach starb sie. Zu einer Verabredung war sie nicht erschienen und hatte, ganz gegen ihre Gewohnheit, nicht abgesagt. Einige Tage vergingen und es gab immer noch kein Zeichen. Ihre Freunde machten sich auf den Weg zu ihrem Haus und bemerkten, dass sechs Zeitungen im Briefkasten steckten. Niemand besaß einen Schlüssel, das hätte einen Verlust von Kontrolle bedeutet, bei aller Freundschaft.

Die Feuerwehr wurde gerufen und stieg von oben in das gläserne Achteck hinein. Erika lag auf dem Boden, neben ihr ihre Tennistasche, als sei sie gerade von einem Spiel heimgekehrt. Tatjana Wulfert

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