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Im Krieg hatten die Berliner jeden Schrecken erlebt. In den frühen Nachkriegsjahren konnten sie dann endlich wieder feiern.

© bpk/Herbert Hensky

Einkaufen im Kugelhagel: So erlebten Berliner Kinder das Ende des Zweiten Weltkriegs

Vom Grauen in die Normalität: Schüleraufsätze aus Prenzlauer Berg von 1946 schildern eindringlich die letzten Kriegsjahre und den Beginn des Wiederaufbaus.

Von Andreas Austilat

Die Kinder hatten alles erlebt. Radioansagen, in denen die sich nähernden Bomber angekündigt wurden, das Dröhnen ihrer Motoren, das Stakkato der Fliegerabwehrkanonen in der Nachbarschaft, das Donnern der Einschläge. Sie hatten den Schmerz in den Trommelfellen gespürt, wenn die Druckwelle ihre Ohren erreichte, hatten den Kalk geschmeckt, der von der Kellerdecke rieselt. Sie hatte ihre Häuser einstürzen sehen und die Leichen, die in den Straßen lagen, hatten fremde Soldaten beobachtet, die über Trümmer hinweg durch die Straßen stürmten, und das Rasseln ihrer Panzerketten vernommen.

Doch nun war alles vorbei. Das Jahr 1946 war gerade angebrochen, als die Lehrer in Prenzlauer Berg ihre Schüler aufforderten, aufzuschreiben, was in den letzten drei Jahren geschehen war.

Und sie schrieben. Helga zum Beispiel aus der Schönhauser Allee: „Als der Krieg 1939 begann, war ich 4 Jahre alt.“ Knapp sechs Jahre später kam der Krieg zu Helga nach Hause, sie war gerade zehn und zieht anrührend lakonisch Bilanz: „Nachts um ½ 1 Uhr fanden wir unser mühsam errichtetes Heim brennend vor. Der Anblick war für mich und meine Eltern sehr traurig.“

Ein anderes Mädchen schilderte den 23. November 1943 in dramatischen Worten: „Wir gingen durch brennende Straßen, die Funken flogen uns um die Ohren, Balken sausten von den brennenden Häusern. Meine Mutter ging mit meinem zwei Monate alten Bruder vor, ich ging hinterher und schlug mit einem nassen Tuch die brennenden Funken, die meine Mutter umfassten, ab.“

„Auf einmal dachten wir, Himmel und Erde vereinen sich“

Dieter aus der ersten Klasse einer Oberschule beschrieb, wie er das Bombardement im Keller erlebte: „Auf einmal dachten wir, Himmel und Erde vereinen sich. Mauersteine flogen uns an die Köpfe. Staubwolken wirbelten im Raum herum. Ich dachte, wir kommen nicht mehr heil hinaus. Mein Freund Wolfhart und seine Schwester kamen jammernd zu uns in den hinteren Luftschutzraum. Die Steine von unserem Luftschutzabort überschütteten meinen Opa. Meine Tante quiekte wie ein Ferkel und kam händeringend zu uns.“

Warum die Schüler im Frühjahr 1946 diese Aufsätze verfassen sollten, lässt sich heute nicht mehr genau klären. Die einen sagen, es ging darum, ein heimatkundliches Archiv anzulegen. Vielleicht wollte man auch wissen, was die letzten Jahre in der kindlichen Vorstellungswelt angerichtet hatten.

Möglicherweise waren viele Lehrer einfach froh, einen Teil ihrer Schüler für ein paar Tage ins Homeoffice zu schicken, wie man heute sagen würde. Denn die übriggebliebenen Schulgebäude waren nahezu alle immer noch beschädigt, Fensterglas Mangelware. Es fehlte an Platz, es fehlte an Heizmaterial, 30 Prozent der Kinder hatten nicht einmal geeignete Schuhe, mit denen sie ihren Schulweg im Winter hätten bestreiten können.

Keine Sammlung ist so vollständig erhalten

1358 Aufsätze entstanden auf diese Weise von Januar bis Mai 1946, die jüngsten Autoren waren gerade zehn Jahre alt, die ältesten 17. Außerdem beteiligten sich 30 Lehrer mit eigenen Beiträgen. Möglich, dass auch in anderen Bezirken derartige Aufsätze in Auftrag gegeben wurden, zumindest aus Friedrichshain ist das bekannt.

Doch keine derartige Sammlung ist so vollständig erhalten, die Aufsätze werden heute im Berliner Landesarchiv aufbewahrt. Einen guten Einblick vermittelt ein Buch, das 1996 von Annett Gröschner zusammengestellt wurde, in Zusammenarbeit mit dem Prenzlauer-Berg-Museum und unterstützt vom Berliner Landesarchiv.

Leider ist das Buch mit dem Titel „Ich schlug meiner Mutter die brennenden Funken ab“ nur noch antiquarisch oder leihweise in den Stadtbibliotheken zu bekommen.

Nach Kriegsende mehr als 15.000 Kinder allein in Prenzlauer Berg

Den Schülern wurden unterschiedliche Themen als Aufgabe gestellt. Gut die Hälfte der Aufsätze handelt von den Ereignissen des Krieges, von den Bombenangriffen und der Erstürmung der Stadt.

Obwohl sehr viele Kinder seit 1943 im Rahmen der Kinderlandverschickung in vermeintlich sichere Gebiete außerhalb Berlins gebracht worden waren, blieb doch eine große Zahl zurück. Weil sie bei ihren Familien sein wollten oder sie heimgekehrt waren, als ihr Ausweichquartier in die Frontlinie geriet.

So befanden sich unmittelbar nach Kriegsende noch mehr als 15.000 Kinder allein im Bezirk Prenzlauer Berg, jedenfalls waren so viele Lebensmittelkarten für sie ausgegeben worden. Sie hatten auch die letzte Etappe erlebt, den Sturm auf die Stadt, der am 20. April 1945 mit Artilleriebeschuss begann und 12 Tage dauerte. Unter ihnen Irene aus der Mädchenmittelschule II.

Einkaufen unter Artillerie-Beschuss

„Die Geschossgarben der Tiefflieger fegten durch die leeren Straßen des Berliner Nordens“, beginnt ihr Bericht. Sie schilderte, wie sie mit ihrer Mutter zum Einkaufen ging, um eine Sonderzuteilung Fleisch zu holen.

„Ängstlich lugten wir aus dem Flurfenster. Konnten wir es jetzt wagen? Ja, also raus, ein paar Schritte bis zur Bornholmer Straße und dann hinüber.“ Kurz darauf gerieten sie unter Beschuss. „Wir drückten uns ganz dicht zusammen, damit wir so winzig wie möglich wurden. Die Kugeln klatschten gegen die Hauswand, es pfiff und johlte über uns, und zwischendurch hörten wir immer wieder den Einschlag einer Granate der russischen Artillerie.“

Schließlich erreichten sie den Fleischerladen, wo sie sich in eine lange Warteschlange einreihten. Zehn Minuten später schlug unter den Wartenden eine Bombe ein, tötete acht, verletzte 14 schwer, wie Irene schrieb. „Uns war glücklicherweise nichts passiert. Nur ließen wir Fleisch Fleisch sein, und im Eiltempo ging es wieder unter Beschuss nach Hause.“

Sind die Aufsätze authentisch?

Da die Arbeiten Ereignisse aufgreifen, die höchstens drei Jahre zurückliegen, kann man von hoher Authentizität ausgehen. Wenngleich Einschränkungen gemacht werden müssen. Annett Gröschner hat recherchiert, unter welchen Bedingungen die Aufsätze entstanden, nämlich am heimischen Tisch.

[Kriegsende in Berlin 1945: Erinnerungen aus den Berliner Bezirken finden Sie in unseren Leute-Newslettern, die Sie hier kostenlos bestellen können: leute.tagesspiegel.de]

In vielen Fällen dürften ältere Geschwister, Eltern oder Großeltern geholfen haben. Sie alle hatten unter dem Einfluss der Nazipropaganda gestanden, doch sie wussten, dass jetzt ein anderer Ton gefragt war. Schließlich war es die sowjetische Kommandantur, die großen Wert auf die zügige Öffnung der Schulen gelegt hatte.

Zwar wurden Plünderungen und Vergewaltigungen durch sowjetische Soldaten keineswegs verschwiegen, aber ebenso oft wurde hervorgehoben, dass die „Russen“ – der offizielle Begriff „ Sowjetmenschen“ hatte sich nicht durchgesetzt – sich sehr viel besser verhielten als befürchtet. Wobei nicht alle stilsicher die richtigen Worte fanden, wenn sie die fremden Soldaten etwa „zutraulich“ nannten.

„In den Straßen lagen Granaten, Gewehre, Panzerfäuste“

Im Mai 1946 wurde das Thema Rückkehr zur Normalität und Wiederaufbau ausgegeben. Ein gefahrvoller Weg, wie ihn Wolfgang aus der Straßburger Straße beschrieb: „In den Straßen lagen Granaten, Gewehre, Panzerfäuste und vieles mehr umher.“

Wolfgang beobachtete einen Sechsjährigen: „Er spielte am Abzugshebel einer Panzerfaust, plötzlich ging das Ding los und mitten in eine Munitionskiste hinein. Sämtliche Kinder, die umherstanden, wurden zerrissen.“

[Niemals vergessen! Wo Berlin der Opfer des Nationalsozialismus gedenkt, mit Stolpersteinen und kleineren Gedenkorten in Kiezen und Ortsteilen, können Sie hier auf einer interaktiven Karte sehen: tagesspiegel.de]

Die 13-jährige Renate aus der Schliemannstraße schilderte die Mühsal, die der Zusammenbruch der Wasserversorgung in den ersten Friedensmonaten mit sich brachte: „Jeden Tag musste ich mich drei bis vier Stunden nach Wasser anstellen. In lange und breite Reihen von Menschen mussten wir, das heißt meine Freundin und ich, uns einreihen. Oft ging auch die Pumpe in der Dunckerstraße entzwei, und wir mussten weit laufen, bis wir endlich einen Wasserhydranten fanden, der uns unsere Eimer füllte.

„Erst jetzt haben wir es erfahren, wie wichtig Wasser, Strom und Gas sind“

Durch und durch nassgespritzt trugen wir dann die vollen Eimer, die nicht leicht waren, nach Hause. Abends, wenn wir müde und zerschlagen vom Anstehen heimkamen, musste man das Abendbrot beim letzten Stümpchen Talglicht, das Mutti noch hatte, einnehmen. Kein elektrisches Licht brannte, kein Radio spielte, weil die Stromleitungen zerstört waren.“

Der Juli 1945 brachte für Renate die erste gute Nachricht: „Endlich lief das Wasser wieder auch in unserem Bezirk. Dann wurden die Elektrizitätswerke in Tätigkeit gesetzt. Das war eine große Überraschung für uns, als an einem Sonntag das Licht anging.“ Und im Januar 1946 die nächste Freude: „Das Gas brannte wieder. Erst jetzt haben wir es erfahren, wie wichtig Wasser, Strom und Gas sind.“

Im April 1946 war das Straßenbild schon ein anderes, wie die 14-jährige Rosemarie schrieb: „Die Schutthaufen, die meistens bis mitten auf den Fahrdamm reichten, sind entweder ganz weg, oder sie sind bis zur eigentlichen Häuserfront zurückgeschippt worden.“

„Jeder Angestellte der Brauerei kann sich ein Beet anlegen“

Die Weißbierbrauerei in der Straßburger Straße, „die aussah, als könne sie nie wieder existieren, ist schon wieder halb ausgeflickt. Jetzt ist auch der ganz verwilderte Garten der Villa hergerichtet, und jeder Angestellte der Brauerei kann sich dort ein Beet anlegen. So sieht man, dass der Aufbau im vollen Gange ist.“

Ein Aufbau, das ahnten die meisten, der noch lange Zeit in Anspruch nehmen würde, aber, wie es in einem weiteren Aufsatz heißt, „man darf sich der Hoffnung hingeben, dass in ferner Zukunft, vielleicht in zehn bis 20 Jahren, die dann in Berlin lebende und wohnende Bevölkerung wieder ein freundlicheres Stadtbild vor Augen haben wird.“

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