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 Gähn. Total normal, dass da jetzt einer im Ritterkostüm rumläuft. Kennt man ja, ist halt Berlin. (Im Fall dieses Fotos ist es Karneval in München, aber man kennt's ja trotzdem.)

© imago

Berlin ist viel zu cool: Ein Plädoyer für mehr "Wow!"

Ein Ritter in der U-Bahn, eine Frau mit Stoffwiesel im Haar – in Berlin wundert man sich über gar nichts mehr. Wer es dennoch tut, gilt als provinziell. So wird die großstädtische Coolness zur Pose. Dabei ist Staunen großartig, denn es beflügelt die Fantasie.

Die Gewissheit folgt erst auf den zweiten Blick: Es ist ein Stofftier, kein echtes Wiesel, das aus dem Haar der Frau vor mir hervorlugt. Ein Stoffwiesel, vielleicht 20 Zentimeter lang. Irgendwo im Dreadlock-Dickicht beginnend, schlängelt es sich um ihre rechte Schulter.

Die Frau steht da, an der Ecke Karl-Marx- und Richardstraße, als könne sie sich nicht entscheiden, wohin sie gehen möchte. Nach rechts, hinein in die Ein-Euro-Shop-Blink- Zone. Oder nach links, die Richardstraße hinunter. Die Frau mit dem Wiesel im Haar trägt Indianerschmuck und bunte Plastikbändchen am Handgelenk, aus Resten von Feuerzeugen hat sie sich eine Kette gebastelt. Sie sieht aus wie eine Figur aus dem Endzeitfilm „Mad Max“. Komplett verkleidet. Der Blick bleibt an ihr haften.

Meiner zumindest. Um mich herum gehen die Leute weiter, niemand scheint die Frau zu beachten. Dass die anderen sich nicht wundern, nicht wenigstens kurz innehalten, um dieses, nun ja, Gesamtkunstwerk zu bestaunen – es wundert wiederum mich.

Viele strengen sich sehr an, sich nicht zu wundern

Über seine Mitmenschen zu staunen, das gilt in Berlin als uncool. Der Dichter Otto Reutter sang schon in den 20er Jahren davon: „Ick wundre mir über jarnischt mehr!“ Dieser Satz, er ist über die Jahre zu einer dieser vermeintlichen Berliner Weisheiten geworden. Ich finde das schade.

Vielleicht ist eine „Mad Max“-Hexe auch nichts Besonderes im immer noch sozial schwachen Neukölln. Aber was ist dann mit: einem Ritter? Vor ein paar Tagen schrieb ein Kollege bei Facebook über eine Begebenheit in der Berliner U-Bahn: Ein Mann im Ritterkostüm stand am Bahnsteig, niemand beachtete ihn. Darunter schrieb der Kollege: „Das ist mein Berlin.“ Viele seiner Facebook-Freunde kommentierten das. Credo: Den Ritter einfach Ritter sein zu lassen, ihn keines Blickes zu würdigen, sei doch cool.

Aber: Es ist ein Ritter, verdammt! In der U-Bahn! Hallo? Den Berliner, lässig bis in die Zwirbelschnurrbartspitzen, beeindruckt offenbar nicht nur gar nichts mehr, er hält seine Ungerührtheit auch noch für besonders großstädtisch. Dabei ist sie nicht viel mehr als eine Pose.

Eine Pose, in der sich gerade die Zugezogenen gefallen. Eigentlich kommen sie aus Buxtehude, Karlsruhe oder Castrop-Rauxel , einen Ritter haben sie zuletzt im Kindertheater gesehen. Und dennoch strengen sie sich sehr an, sich bloß nicht zu wundern. Denn Staunen ist ja etwas Direktes, es passiert, ohne dass man sich dagegen wehren kann. Erst im zweiten Schritt tun viele so, als sei es total normal, dass da jetzt einer im Ritterkostüm rumläuft. Kennt man ja, ist halt Berlin.

Ich freue mich, wenn ich jemanden sehe, der anders ist als ich

Ich hätte den Ritter angeschaut, ihn womöglich sogar angestarrt. Das kann an meiner schlechten Kinderstube liegen. Oder aber an der Tatsache, dass ich mit meinem eigenen Zugezogensein anders umgehe. Im Ruhrgebiet, meiner Heimat, ist mir niemals ein Ritter in der U-Bahn begegnet. Wenn da jetzt an der U8 ein Mann mit Kettenhemd, Pluderhose und Helm steht, dann guck ich da hin. Ich frage mich auch, ob der Ritter nicht vielleicht sogar will, dass man ihn anschaut, oder zumindest in Kauf nimmt, dass er auffällt. Macht ihn das weniger fantastisch? Natürlich könnte man gähnend in die andere Richtung schauen – aber warum sollte man?

Berlin gilt als verrückt – doch die Normalos sind auch hier in der Überzahl. Ich gehöre dazu. Und freue mich, wenn ich jemanden sehe, der so offensichtlich anders ist als ich. Das beflügelt die Fantasie, bringt Farbe in den Tag. Doch dafür muss man hingucken. Wer sich nur unter Scheuklappen als echter Berliner fühlt, verpasst, was diese Stadt zu bieten hat. Für Platon war das Staunen Anfang aller Philosophie. Er schrieb: „Das Staunen ist die Einstellung eines Mannes, der die Weisheit wahrhaft liebt, ja es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen.“

Berlin im Jahr 2014 ist kein Ort für Philosophen. In der hipsten Stadt Europas tummeln sich die Abgeklärten, die Coolen. Die, die nichts mehr schockt, nichts mehr in Staunen versetzt. Die Angst, als Provinzfürst entlarvt zu werden, wenn man den Ritter anstarrt, unterdrückt den kreativsten Impuls von allen.

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