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Berlin: Ein Mann des Ausgleichs

Als Finanzdezernent führte Jochen Palenker die Jüdische Gemeinde aus der Schuldenkrise. Jetzt hört er auf An diesem Sonntag wählen die rund 11 000 Mitglieder eine neue Leitung.

Gegenüber vom Roten Rathaus, wo heute Karl Marx sitzt und Friedrich Engels steht, ragten vor dem Krieg die Türmchen eines Warenhaus-Palasts in den Himmel, das „Harrods von Berlin“. Jochen Palenker sitzt im Café und klickt auf seinem Laptop Fotos an. Man sieht Hallen mit Tischen voller Stoffballen, Etagen mit Rundgängen um einen Lichthof und einen großen Speisesaal, den „Erfrischungsraum“. Das Kaufhaus gehörte Jochen Palenkers Familie, der Unternehmerdynastie Nathan Israel. Andere Fotos zeigen eine hübsche junge Frau, darüber steht „Mutti“. Es sind Gemälde des berühmten Malers Lovis Corinth. Die Israels gehörten zum Establishment. Palenkers Urgroßvater war im Ersten Weltkrieg Adjutant des späteren Reichspräsidenten Paul von Hindenburg und mit Generalmajor Erich Ludendorff befreundet. Der dandyhafte Uronkel, der an der Rettung tausender jüdischer Kinder beteiligt war, animierte Christopher Isherwood in den 20er Jahren zu seinem Roman „Good bye to Berlin“.

Jochen Palenker öffnet ein weiteres Dokument. Es ist der Stammbaum der Familie, den er bis ins Jahr 1671 zurückverfolgt hat. Damals, vor 340 Jahren, folgten 40 Wiener Juden mit ihren Familien der Einladung des „großen Kurfürsten“ Friedrich Wilhelm von Brandenburg, nach Berlin zu kommen, um Stadt und Land wirtschaftlich voranzu bringen. Sie begründeten eine neue jüdische Gemeinde, nachdem 200 Jahre zuvor Kurfürst Friedrich II. die letzten Juden aus der Mark vertrieben hatte. „So alteingesessen wie unsere Familie in Berlin sind wohl sonst nur noch die Hohenzollern“, sagt Palenker. Er trägt Jeans und Sweatshirt, auf seine Familiengeschichte ist er stolz, klar, aber er will damit nicht angeben. „Nach 1933 hat das ganze Großbürgerliche nichts genutzt“, sagt Palenker. Das Warenhaus wurde enteignet, der Hindenburg-Adjutant wurde mit seiner Familie im Viehwaggon nach Theresienstadt deportiert. Die Urgroßmutter überlebte die Konzentrationslager, ging in die Schweiz, andere Vorfahren flüchteten nach Chile, Palenkers Mutter kehrte nach Berlin zurück.

Jochen Palenker ist 54 Jahre alt und engagiert sich in der Jüdischen Gemeinde, das sei er der Familientradition schuldig. Seit vier Jahren und noch bis Anfang Januar 2012 steht er zusammen mit Lala Süsskind und Mirjam Marcus an der Spitze der Gemeinde. Als Finanzdezernent hat er versucht, die Gemeindefinanzen zu sanieren.

An diesem Sonntag wählt Berlins Jüdische Gemeinde eine neue Leitung. Seit Jahren schleppt die Jüdische Gemeinde Berlin ein Haushaltsdefizit von einigen Millionen mit sich. Süsskind, Palenker und ihre Mannschaft deckten auf, dass die Gemeinde ihren Ex-Mitarbeitern seit Jahren Zusatzrenten zahlt, die über dem im öffentlichen Dienst Üblichen liegen. Der Senat bemisst seinen Zuschuss am öffentlichen Dienst. Die Schere zwischen den gezahlten Renten und dem Senatszuschuss ging immer weiter auf. In die Bilanz von 2010 hat Palenker zum ersten Mal Rückstellungen für die Pensionskasse eingestellt und musste dafür ein Defizit von 31 Millionen Euro einschreiben. Der Senat fordert zusätzlich 9,3 Millionen Euro zurück. Es ist auch Vermögen da. Aber selbst wenn man das gegenrechnet, bleiben elf Millionen Euro Überschuldung.

Palenker und Süsskind verordneten einen rigorosen Sparkurs: Immobilien wurden verkauft, das Schulgeld wurde erhöht, der Zuschuss für Clubs und Vereine gekürzt; Pessachpakete für die sozial Schwachen wurden durch Spenden finanziert und nicht wie sonst aus der Gemeindekasse bezahlt. Wenn das Gemeindeparlament einer Rentenkürzung zustimmt und der Senat eine „Sanierungszulage“ genehmigt, könnte das Ergebnis für 2012 fast ausgeglichen sein, so Palenker. Sein Wirtschaftsplan sieht nur noch ein Defizit von 835 000 Euro vor, wovon 800 000 für Pensionen aufgebracht werden müssen.

Noch wird mit dem Senat verhandelt, und ob das amtierende Gemeindeparlament in seiner letzten Sitzung am 14. Dezember der Rentenkürzung zustimmt, ist offen. Wenn nicht, würde das Problem vertagt und der neue Gemeindevorstand könnte das Paket wieder aufschnüren, wovor es den Zuständigen im Senat graut. Gideon Joffe zum Beispiel, der die Gemeinde von 2005 bis 2008 geleitet hat und bis vor kurzem Geschäftsführer der insolventen Treberhilfe war, will gegen die „Philosophie des Abbaus“ vorgehen, wenn er gewählt wird.

Palenker und Süsskind wollen nicht mehr antreten. Sie haben erfolgreich gearbeitet, ihnen ist es auch gelungen, endlich etwas Ruhe in die zuvor oft unerbittlich zerstrittene Gemeinde zu bringen und Ansehen im Senat zurückzugewinnen. Aber Palenker sagt: „Ich muss mich wieder um meine eigenen Finanzen kümmern.“ Er ist gelernter Chirurg und verwaltet das Familienvermögen. Das hat es ihm auch erlaubt, sich für die Gemeinde einzusetzen – in vielen Monaten bis zu 20 Stunden die Woche, ehrenamtlich. Und dann musste er sich trotzdem bisweilen noch übel beschimpfen lassen. Denn das Verständnis für den Sparkurs ist nicht bei allen Gemeindemitgliedern und Parlamentskollegen gleichermaßen ausgeprägt. „Wenn jüdisches Leben in Berlin aber nur das ist, was der Senat finanziert, dann können wir hier bald dichtmachen“, sagt Palenker. Nur ein Teil der Gemeindemitglieder zahlt Gemeindesteuern, viele sind Rentner oder Hartz-IV-Empfänger – einige, weil ihre Berufsausbildungen aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion hier nicht anerkannt wurden. Die Zukunft der Gemeinde sei aber nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch der Einstellung, sagt Palenker. Er vermisst bei zu vielen die Bereitschaft, selbst etwas auf die Beine zu stellen. Manchmal fühle er sich deshalb in der Gemeinde, die seine Urahnen aufgebaut haben, nicht mehr zu Hause. Lala Süsskind hört auf, weil sie wieder mehr Zeit für die Familie haben möchte.

Um die 21 Sitze im Gemeindeparlament bewerben sich 62 Kandidaten. Fast alle treten an mit der Absicht, auch die hier lebenden (finanzkräftigen) israelischen und amerikanischen Juden für die Gemeinde zu gewinnen. Schätzungsweise 30 000 Juden leben in der Stadt, aber nur knapp 11 000 sind Gemeindemitglieder. Die Berliner Gemeinde ist die größte jüdische Gemeinde in Deutschland. Claudia Keller

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