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Immer im Dienst. Viele Berliner verzichten freiwillig auf ihren Feierabend.

© Oliver Berg/p-a/dpa

Ein Leben für den Job?: Überstunden sind keine Statussymbole!

Keine Zeit fürs Privatleben – und auch noch stolz darauf. Wer sich damit brüstet, wie lange er im Büro sitzt, gefährdet sich selbst. Ein Kommentar.

Und dann kommt dieser Anruf: „Wir müssen unser Treffen verschieben, ich hänge noch im Büro fest. Vielleicht klappt’s demnächst? Ich habe einfach zu viel zu tun.“ Berlin, 21 Uhr, irgendein Wochentag. „Demnächst“ wird es auch nicht klappen, weil: siehe oben.

Menschen, ohne die in einem Unternehmen offenbar nichts mehr läuft, es gibt sie – und sie werden mehr. Das ist jedenfalls der Eindruck, den man von vielen in dieser Stadt vermittelt bekommt. Es ist, als sei die Länge der Arbeitszeit, die Menge all dessen, was es zu erledigen gilt, ein neues Statussymbol: 100 Überstunden, wer bietet mehr? Aber ach, wer machte es gerne; muss ja; geht ja nicht anders; wer wenn nicht ich; weiß ja sonst niemand, was Sache ist.

Ich arbeite, also bin ich

Erzählt mir nichts! Nicht, wie viel ihr arbeitet, nicht, wie wichtig ihr deswegen seid. Was ist bloß passiert, dass wir vor allem Arbeitnehmer sind – und erst dann Freunde, Mütter, Väter, Berliner, Tischtennisspieler oder als was wir uns früher so definierten? „Ich hab’ so viel zu tun“, der Satz ist längst Selbstvergewisserung geworden. Ich arbeite, also bin ich. Je mehr ich arbeite... ihr wisst schon.

Idealerweise findet man seine Arbeit sinnvoll oder hat sogar Spaß daran. Dann ist es ist in Ordnung, für ein Projekt, das wichtig ist, das dringend fertig werden muss, das einem am Herzen liegt, mal länger im Büro zu sitzen. Sich damit zu brüsten, ist es nicht. Was passiert wohl, wenn einer krank ist? Eben, die Arbeit macht ein anderer. Jeder ist ersetzbar. Selbst im Fall einer Kündigung dürfte in den meisten Branchen innerhalb weniger Tage ein Nachrücker gefunden sein. Ja, auch für euch mit euren zehntausend Bummeltagen, die ihr gern mal nehmen würdet, wenn es die Arbeit nur zuließe.

Natürlich gibt es jene, die Angst haben, den Job zu verlieren, wenn sie nicht ewig am Schreibtisch sitzen. Doch die Chefs sind schlecht beraten, Durchhaltevermögen zum obersten Kriterium zu machen. Denn was heißt das schon, „heute wieder 13 Stunden gearbeitet“? Immer wieder haben Studien in den vergangenen Jahren gezeigt, dass körperliche Anwesenheit am Arbeitsplatz nicht mit tatsächlicher Leistung korreliert. Niemand schrubbt acht Stunden runter. Außer euch natürlich, ihr schafft auch 13.

668 Millionen Arbeitstage fehlten deutsche Beschäftigte 2018

Jede ehrliche Beschwerde darüber könnte ich verstehen. Weint euch aus, überlegt, was ihr ändern könnt. Nicht zuletzt, weil zu viel Arbeit ungesund ist: 668 Millionen Arbeitstage fehlten deutsche Beschäftigte im Jahr 2018, 107 Millionen davon aufgrund von Burnout oder Depression. Abgesehen davon gibt es ganz klare Regeln, wie viel und mit wie vielen Pausen gearbeitet werden darf und muss, nachzulesen im Arbeitszeitgesetz. Selbst in Japan, dem Land, das ein eigenes Wort fürs Totarbeiten hat – karoshi – hat sich die wöchentliche Arbeitszeit reduziert.

Es wäre mal wieder möglich, eine Verabredung einzuhalten. Zum Sport zu gehen. Über anderes zu reden als Arbeit. Traut euch, würde ich sagen, wäre mein Verdacht nicht ein ganz anderer.

Wer bei jedem Telefonat Zeit hat, zu erklären, wie unheimlich viel er gerade arbeiten muss, kann vor Überlastung nicht zusammenbrechen. Also tut nicht so.

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