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Jahrelang schleppte sich die Uhr am Roten Rathaus ihrer Zeit hinterher. Jetzt wird endlich ein neues Uhrwerk eingebaut.

© picture alliance / Sophia Kembow

Die ticken nicht richtig: Pflegt die öffentlichen Uhren!

Einst wurden öffentliche Uhren als Errungenschaft für ein geordneteres Leben gefeiert. Heute irritieren sie oft: Weil sie ungenau gehen oder komplett falsch. Das wirkt gestrig – und verkennt, wie kostbar die Zeit ist.

Von Maris Hubschmid

Morgens, halb zehn in Deutschland. Oder doch schon zwanzig vor? Erst gestern bin ich wieder drauf reingefallen: Auf den ersten Fahrradmetern des Tages bewege ich mich in dem Glauben, gut in der Zeit zu sein. Dann alarmiert mich die Straßenuhr am Südstern. Oha, schon so spät? Also schnell, fester treten, damit das Kind pünktlich in die Kita kommt. Schiebe ich dort mein Rad vom Gelände und sehe zum Heilig-Kreuz-Kirchturm, atme ich auf – ordentlich was gutgemacht! Jetzt entspannt ins Büro. Doch bereits an der Kreuzung Mehringdamm/Tempelhofer Ufer ist der Zeiger wieder bedrohlich vorgerückt. Viele der öffentlichen Uhren, die ich täglich passiere, gehen vor oder nach. Jeder Trip gerät zur Zeitreise.

Schon klar: Menschen, die stets ordentlich Zeitpuffer mitbringen, sicherheitshalber lieber eine halbe Stunde mehr für den Weg einplanen, müssen sich von ungenauen Uhren nicht hetzen lassen. Mich stressen sie. Ich erreiche mein Ziel oft in Eile und letzter Minute. In einem straff organisierten Familien- und Arbeitsalltag ist Zeit ein Thema: weil sie knapp ist und effizient genutzt werden will. Der ständige Blick zur Uhr ist Symptom einer schnelllebigen, synchronisierten Gesellschaft. In Berlin stößt man an jeder zweiten Ecke auf eine gut sichtbare Uhr. Doch ein bemerkenswerter Teil geht ungenau. S-Bahn Anhalter Bahnhof: zwei vor. Gleis gegenüber: vier nach. Station Hermsdorf: fünf nach.

Eine falsch gehende Uhr ist peinlich. Eine ungenaue gefährlich

Die meisten der sogenannten Normaluhren im öffentlichen Raum sind heutzutage funkgesteuert – aber auch störanfällig. Unwetter oder elektrische Felder an Straßenbahnknotenpunkten bringen sie aus dem Takt. Dann braucht es einen, der sich kümmert. Eine über einen längeren Zeitraum offensichtlich falsch gehende Uhr stellt einer Stadt ein schlechtes Zeugnis aus, wie defekte Rolltreppen oder vermüllte Parks. Eine ungenau gehende Uhr ist gefährlich, weil man sie nicht sofort als solche erkennt – und sich auf sie verlässt. Zehn Minuten mehr oder weniger entscheiden darüber, ob jemand noch zum Sportkurs geht oder in die Arztsprechstunde. Eine Minute, ob er sprintet, um die Bahn zu erwischen, den Regionalzug, den Flieger.

Wenn man eine öffentliche Uhr einrichte, warben Bürger Ende des 15. Jahrhunderts, würden die Menschen öfter zu den Messen gehen, ein fröhlicheres und geordneteres Leben führen. Inzwischen irritieren sie mehr, als sie dienen. Im Zweifel bestätigt der Gegencheck mit dem Smartphone, dass nicht man selbst, sondern Berlin aus der Zeit gefallen ist. Wahr ist: Die wenigsten sind auf öffentliche Uhren angewiesen. Sie sind ein Service, der aber nur von Nutzen ist, wenn alle Seiten ihn ernst nehmen. Ein Luxus, den man sich keineswegs leisten muss. In südlichen Ländern kommen Uhren im Stadtbild viel seltener vor. Weil die es mit der Zeit nicht so genau nehmen? Und wir?

Reparaturkosten? Zeit ist Geld!

Verantwortlich sind immer andere. Behörden, Schulen, Gemeinden, Verkehrsunternehmen – oder Außenwerbefirmen wie Ströer, die in Berlin allein 450 Uhrensäulen betreibt. Dass jüngst aufgrund einer Unterversorgung im europäischen Stromnetz auch noch die Uhren an vielen heimischen Backöfen und Mikrowellen sechs Minuten nachgingen, dafür können sie alle nichts. Dafür, dass Anfang April wieder viele Uhren eine Stunde nachgehen werden, weil niemand sich bequemt, sie auf Sommerzeit zu stellen, oft aber schon. Nicht zuletzt die auf den Würfeln darunter Werbenden sollten sich fragen, ob sie unter diesen Umständen nicht gestrig wirken.

Selbst die wohl prominenteste Uhr der Stadt am Roten Rathaus ist, nachdem sie sich jahrelang ihrer Zeit hinterhergeschleppt hatte, auf der Zwölf eingeschlafen. Hier handelt es sich um Narkose. Hinter der Fassade wird operiert, ein neues Uhrwerk eingebaut.

Höchste Zeit. Denn: Wenn Zeit Geld ist – kann denn eine kaputte Uhr ein Kostenproblem sein? Liebe Uhrenbetreiber, die Zeit gehört zum Wertvollsten, was uns geschenkt ist. Vernachlässigt sie nicht so. Gerade in einem Land, das sich international seiner Punktgenauigkeit rühmt, sollten die Uhren richtig ticken. Zumal in der Hauptstadt.

Ja, wir Berliner haben die Weltzeituhr. Aber nicht alle Zeit der Welt.

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