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Mit oder ohne Tuch. Mädchen können beschimpft werden, wenn sie ihr Haar bedecken – aber auch, wenn sie es nicht tun.

©  Kitty Kleist-Heinrich

Die Freiheit der anderen: Berlin-Neukölln startet ein Pilotprojekt gegen religiös motiviertes Mobbing

Neukölln möchte mit einem Projekt „konfrontativer Religionsbekundung“ entgegenwirken. Doch aus dem Bezirk gibt es Kritik.

Es ist die Frau, die für eine Muslima gehalten und auf der Straße angesprochen wird: „Schwester, wo ist dein Kopftuch?“ Es sind Jugendliche, die sich während des Ramadan in der Schule gegenseitig unter Druck setzen, strenger zu fasten.

Für Neuköllns Jugendstadtrat Falko Liecke (CDU) gehört auch schon ein Kind dazu, dass sich bei Weihnachtsliedern die Ohren zuhält und sich fürs neue Jahr wünscht, dass Weihnachten nicht mehr gefeiert wird. „So etwas nehme ich sehr ernst, weil das ganz klar von zu Hause kommt und da unsere kulturellen Regeln und Gewohnheiten aktiv bekämpft werden“, sagt Liecke.

Um solche Vorkommnisse zu dokumentieren, will der Bezirk Neukölln eine „Anlauf- und Dokumentationsstelle gegen konfrontative Religionsbekundung“ einrichten und hat dafür 59 000 Euro aus dem Bundesprogramm „Demokratie leben!“ beantragt. Betreiben soll die Stelle der „Verein für Demokratie und Vielfalt in Schule und beruflicher Bildung“ (DeVi).

Der Verein kommt ursprünglich aus der Rechtsextremismus-Prävention und beschäftigt sich seit 2015 auch mit dem Thema „konfrontative Religionsbekundung“, gibt Lehrfortbildungen und besucht auch Schulen. Ziel des Projekts: Das Phänomen erfassen, Vorfälle auswerten und, so erklärt es Neuköllns Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD), „passgenaue pädagogische Strategien für die Schulen erarbeiten und diese bei der Entwicklung von Interventionen beratend begleiten“.

Wie genau das Projekt aussehen soll, ist noch nicht klar

Bedarf an genauen Daten zu Fällen, in denen übergriffiges Verhalten mit Religion begründet wird, gibt es in Berlin durchaus. Eine Angabe, wie viele Male so etwas jährlich an die Schulaufsicht gemeldet wird, konnte die Senatsbildungsverwaltung am Donnerstag auf Anfrage nicht machen. Das Problem sei aber bekannt, sagte ein Sprecher: „Zu solchen Konfliktstellungen kommt es immer wieder, besonders im Ramadan.“ Für Lehrkräfte und Schulleitungen gebe es zudem die Handreichung „Schule und Islam“ – die allerdings stammt von 2009.

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Darüber, wie das Projekt genau aussieht, scheint man sich im Neuköllner Bezirksamt indes noch nicht so ganz einig zu sein. Schulstadträtin Karin Korte sagte dem Tagesspiegel, ihr sei nicht klar, ob die Stelle auch für Schulen Ansprechpartner sein soll und wie das Angebot mit den bereits bestehenden Strukturen wie Schulaufsicht oder bestehenden Projekten verschränkt wird.

Stadtrat Liecke sieht die neue Stelle als Kontaktpunkt für jeden, der im öffentlichen Raum religiös bedrängt wird – „zum Beispiel im Umfeld der Al-Nur-Moschee“. Hikel hingegen hält das für zu breit angelegt und sagt, die Stelle werde sich wohl eher mit Vorfällen in Institutionen und Einrichtungen wie eben Schulen oder Jugendfreizeitzentren beschäftigen.

"Nicht über die Menschen sprechen, sondern mit ihnen"

„Es scheint alles noch relativ frisch zu sein“, sagt auch Samira Tanana von den Grünen in der Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung. Sie ist irritiert, dass weder der Integrationsausschuss, dem sie vorsitzt, noch der Neuköllner Migrationsbeirat, den sie stellvertretend leitet, bisher an dem Projekt beteiligt wurden. „Es wäre wünschenswert gewesen, dass wir vorher gefragt werden. Dass das nicht passiert ist, bedauere ich sehr.“

Sie will nun einfordern, dass die Dokumentationsstelle zumindest im Integrationsausschuss noch einmal vorgestellt wird und externe Fachleute dazu einladen. Tanana plädiert auch dafür, dass bei der Konzeption der Anlaufstelle muslimische Expertise eingebunden wird. „Mein Grundsatz ist: Nicht über die Menschen sprechen, sondern mit ihnen. Menschen, die diesen Hintergrund haben, wissen selbst am besten, was in ihren Communitys los ist“, sagt Tanana.

Hätte es auf Jugendliche, die sich gegenseitig mit ihrer Auslegung des Islam drangsalieren, nicht einen besseren Effekt, wenn andere Muslim:innen das mit ihnen besprechen? Neuköllns Bezirksbürgermeister Martin Hikel glaubt das nicht unbedingt und sieht den Umstand, dass muslimische Initiativen oder Vereine bisher nicht in die Planung eingebunden wurden, nicht als Problem.

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Mit DeVi habe man bewusst eine „dezidiert grundgesetzlich orientiere Organisation“ als Partner für die Anlaufstelle gewählt, betont der Politiker. „Der Mittelpunkt der Arbeit soll nicht Religion sein, sondern der Umstand, dass Freiheiten von anderen eingeschränkt werden. Theologische Diskussionen verlieren Sie immer.“

Der DeVi-Vorsitzende Michael Hammerbacher will vor allem „in das Dunkelfeld ein bisschen Hellsicht bringen“. Wie verbreitet das Problem in Berlin wirklich sei, sei nämlich derzeit schwer zu sagen, sagte Hammerbacher dem Tagesspiegel. Und wies auch darauf hin, dass konfrontative Religionsbekundung nicht zwingend muslimischen Hintergrund haben muss. Es habe vereinzelt auch schon Fälle bei Evangelikalen oder Pfingstlern gegeben. „Da diese Religionsgemeinschaften großen Zulauf haben, könnte das in Zukunft auch stärker zum Thema werden.“

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