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Jan-Peter Jansen (l.), hier mit Schmerzpatient Roland Wagner, ist Ärztlicher Leiter des Schmerzzentrums Berlin in der Schönhauser Alle und Botschafter der von Eckart von Hirschhausen gegründeten Stiftung „Humor hilft heilen“.

©  Thilo Rückeis

Chronische Schmerzen: Die Festplatte im Kopf neu beschreiben

Es gibt viele Möglichkeiten, mit chronischen Schmerzen umzugehen. Schmerzstillende Medikamente gehören dazu. Aber sie sind nicht alles – manchmal hilft auch Humor. Eine Reportage aus dem Schmerzzentrum Berlin.

Die Prozedur ist für Roland Wagner jeden Morgen die gleiche: Mit steifen Gelenken, noch liegend, stützt er sich auf dem Ellenbogen ab, hievt sich aus dem Bett – und schluckt erst mal Tabletten: Betäubungs- und Schmerzmittel, fünf bis sechs davon, sie werden sich summieren im Laufe der nächsten Stunden auf zehn Pillen. So kann er den Tag einigermaßen bewältigen.Der 58-Jährige Müllwagenfahrer leidet unter Chronic Lower Back Pain, zu Deutsch: chronische Rückenschmerzen. „Dort fängt es an“, erzählt er. Dann würde der Schmerz vom Rücken in leichten Zuckungen nach oben wandern, Schultern und Kopf erreichen, schließlich schmerzten auch Beine und Füße. Roland Wagner ist ein stattlicher Mann, dass er leidet, sieht man ihm nicht sofort an. Aber: „Schmerzen sind unsichtbar“, erklärt Jan-Peter Jansen, Anästhesist und Ärztlicher Leiter des Schmerzzentrums Berlin in der Schönhauser Allee. Seit sieben Jahren befindet sich Roland Wagner bei ihm in Behandlung.

Von Rückenschmerzen sind in Deutschland bis zu 40 Prozent der Bevölkerung betroffen. Chronisch nennt man den Schmerz, wenn er länger als drei Monate anhält. Chronische Schmerzen entstehen mit Abstand am häufigsten am Rücken, aber auch andere Körperregionen können betroffen sein, etwa Kopf oder Nerven, dann spricht man von neuropathischem Schmerz. Beim Rücken wird unterschieden zwischen einem spezifischen Rückenschmerz, der eine klare Ursache hat (etwa Osteoporose oder Knochenbruch), und einem unspezifischen, bei dem die Diagnose wesentlich schwieriger zu stellen ist. Früher vermuteten Mediziner, die Schmerzen könnten mit den Bandscheiben zu tun haben. Heute haben sie eher die Faszien im Blick, das sind die dünnen, sehnenartigen Schichten, die die Muskeln umgeben. Dort sitzen Rezeptoren, die auf Stress reagieren. Aber auch das ist nur eine Hypothese. „Man kennt die genauen Ursachen von unspezifischem Rückenschmerz einfach nicht“, sagt Jan- Peter Jansen. Dann fügt er etwas an, was aufhorchen lässt: „Der Rücken ist der Tummelplatz der Seele.“ Was er meint: Auch soziale und psychische Faktoren spielen eine große Rolle. Wie ist die Situation zu Hause, wie sind die allgemeinen Lebensumstände?

"Dein Mann läuft wie ein 80-Jähriger"

Bei Roland Wagner begann es vor 15 Jahren. Er selbst bemerkte es gar nicht sofort , aber eine Freundin seiner Frau, die als Physiotherapeutin arbeitet, sah die beiden auf der anderen Straßenseite und machte seine Frau darauf aufmerksam: „Dein Mann läuft wie ein 80-Jähriger.“ Dabei war Roland Wagner zu diesem Zeitpunkt erst 43. Jetzt fiel es ihm auch selbst auf, er konnte nichts mehr richtig heben, die Kraft war weg. Für jemanden, der als Lkw-Fahrer arbeitet, keine einfache Sache. Und so begann für ihn eine Odyssee durch Berlin. Die führte ihn erst einmal in eine ambulante Rheumatologie. „Die Schmerzen in einer Rheuma-Klinik abzuchecken ist kein schlechter Gedanke“, sagt Jan-Peter Jansen. „Viele Patienten, auch Herr Wagner, leiden ja auch an Arthrose.“ Er bekam Cortison und einen weiteren Wirkstoff, Adalimumab mit dem Handelsnamen Humira. Das half ihm jedoch nur bedingt, die Schmerzen blieben.

„Das Problem ist“, sagt Jan-Peter Jansen, „dass viele Schmerzpatienten jahrelang von Arzt zu Arzt irren, vom Neurochirurgen zum Psychiater zum Orthopäden. Manche versprechen ihnen das Blaue vom Himmel, gerade im Rückenbereich. Etwa, dass sie mit einer Operation alle Schmerzen beenden könnten. Da ist auch viel Selbstinszenierung dabei.“ Im ambulanten Schmerzzentrum, das Wagner auf Anraten seiner Frau – die zu diesem Zeitpunkt dort bereits Patientin war – 2011 erstmals besucht hat, will man von diesem operativen Ansatz weg. Der Fokus liegt auf nichtinvasiven Therapien. Und darauf, dem Patienten dabei zu helfen, Struktur und Ordnung in seine Arztbesuche zu bringen.

Wie ein Dirigent

Jan-Peter Jansen vergleicht die Rolle des Schmerzzentrums mit der eines Dirigenten, der den Überblick behält. Die Feinarbeit finde in den niedergelassenen Praxen statt. Roland Wagner besucht regelmäßig seine Hausärztin, außerdem einen Rheumatologen, einen Neurologen und einen Kardiologen. Ins Schmerzzentrum kommt er nur vier Mal im Jahr, um mit Jansen die allgemeine Situation und seine Medikation zu besprechen. „Wir wollen erreichen“, sagt der Anästhesist, „dass die Patienten nicht den Blick auf ihre eigentlichen Lebensziele vergessen.“ Sie sollen lernen, dass der Schmerz nicht im Mittelpunkt steht, sollen Herr über ihren Körper bleiben. Man könnte auch sagen: Die Festplatte im Kopf wird neu beschrieben.

Roland Wagner ist seit Ende 2017 krankgeschrieben, will aber nach und nach im Rahmen des sogenannten Hamburger Modells in den Arbeitsalltag zurückkehren. „Manchmal stehe ich morgens auf und weiß: ich bin heute zu gar nichts fähig“, erzählt er. An anderen Tagen läuft es besser, dann kann er loslegen, Erledigungen und Arztbesuche machen. Schwer hat er daran zu knabbern, dass er seine Enkel nicht mehr hochheben kann. Auch wegen solcher Einschränkungen nehmen viele Schmerzpatienten Antidepressiva. „Sie finden eigentlich keinen Schmerzpatienten, der nicht auch an Depressionen leidet“, sagt Jansen. Ein Grund dafür sind die empfundene Nutzlosigkeit und auch Schuldgefühle, egal wie gerechtfertigt sie sind oder nicht.

Schmerztherapie dauert ein Leben lang

Jan-Peter Jansen (l.), hier mit Schmerzpatient Roland Wagner, ist Ärztlicher Leiter des Schmerzzentrums Berlin in der Schönhauser Alle und Botschafter der von Eckart von Hirschhausen gegründeten Stiftung „Humor hilft heilen“.

©  Thilo Rückeis

Das Schmerzzentrum in der Schönhauser Allee wurde 2005 als Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) eröffnet. Rund 13 000 Patientinnen und Patienten werden hier ambulant behandelt – eine Zahl, die im Großen und Ganzen über die Jahre gleich bleibt, weil Neuzugänge die Abgänge ausgleichen. Schmerztherapie ist nicht irgendwann abgeschlossen, sie dauert ein Leben lang. „Manche Patienten kenne ich seit Jahrzehnten, einige bleiben eine Zeitlang weg und kommen dann wieder“, erzählt Jansen. Das Konzept ist multimodal, 20 Ärzte aus acht verschiedenen Fachrichtungen arbeiten hier: Allgemeinmediziner, Anästhesiologen, Innere Mediziner, Orthopäden, Neurochirurgen, Neurologen, Musik- und Kunsttherapeuten und Physiotherapeuten. Ähnliche Einrichtungen gibt es auch in Mainz, Kiel und München.

Eine Besonderheit des Berliner Zentrums ist die Verbindung mit einer eigenen Schmerzklinik, sie wurde 2017 in Weißensee eröffnet und ist mit 22 Plätzen nicht besonders groß – aber sehr effektiv, zumindest wenn man Roland Wagner glaubt. Der war hier drei Wochen Patient. „Ich empfand es als sehr positiv, dass man den Ärztinnen und Ärzten nicht jedes Mal neu erklären muss, was man gerade hat. Die interne Kommunikation läuft sehr gut.“ Zum Programm gehört unter anderem eine Aufklärung darüber, wie Muskeln überhaupt funktionieren. Die Patienten führen ein Schmerztagebuch und wohnen in Gruppen von maximal acht Personen zusammen, das stärkt das Gemeinschaftsgefühl und lässt neue Bindungen und Freundschaften entstehen. „Wir wissen einfach viel voneinander“, sagt Wagner. „Was der oder die andere hat, welche Medikamente geholfen haben. Die Stimmung ist toll. Ich erinnere mich an eine Patientin, die die Klinik mit Rollator betreten und sie ohne wieder verlassen hat.“

Gegründet wurde die Klinik, um das Konzept der Multimodalität noch besser umsetzen zu können und dafür mehr Zeit zu haben. Auch in Weißensee sind Ärztinnen und Ärzte aus verschiedenen Fachrichtungen tätig. Privatpatienten seien die Ausnahme, so Jansen, die meisten Patienten sind gesetzlich versichert. Inzwischen würden 37 gesetzliche Kassen den Aufenthalt bezahlen.

Wieder bremsen können

Sowohl in der Schönhauser Allee als auch in der Weißenseer Klinik gibt es zwei grundsätzliche Therapieformen: medikamentös und nichtmedikamentös – oder eine Kombination. Roland Wagner nimmt Novamin mit dem Wirkstoff Metamizol und ein Opiat, Handelsname: Palexia. Solche Medikamente sollen die Schmerzabwehr wieder einschalten, die bei Schmerzpatienten wegen fehlender Morphine gestört ist. Deshalb empfinden sie Schmerz, selbst ein kleines Zwicken, als bedrohlich. Jan-Peter Jansen benützt ein Bild: „Stellen Sie sich ein Auto vor, dessen Bremsflüssigkeitsbehälter ein Loch hat. Sie montieren ein Fass mit Bremsflüssigkeit auf dem Dach und füllen kontinuierlich von oben nach. Dabei dosieren sie vielleicht auch mal zu viel, dann tropft es auf die Straße. Aber sie können wieder bremsen.“

Auch medizinisches Cannabis in Form getrockneter Blüten oder Extrakten kommt bei manchen Patienten in der Therapie chronischer Schmerzen zum Einsatz. Jan-Peter Jansen bietet dazu ein eigenes Seminar an. Der entsprechende Paragraf 31 des Sozialgesetzbuches ist 2017 liberalisiert worden, aber die Hürden für den Einsatz von Cannabis sind immer noch hoch. Die Erkrankung muss nachweisbar schwerwiegend sein, ständige Bedürftigkeit muss gegeben sein, es darf keine Therapiealternative geben, alle Leitlinien müssen angewendet worden sein. Viele Ärzte verschreiben Cannabis nur zögerlich, weil die Rauschwirkung süchtig machen kann – und weil sie mit der Prozedur der Beantragung der Kostenerstattung noch nicht vertraut sind. Sie schicken die Patienten dann ins Schmerzzentrum. Hier wird die Notwendigkeit gegebenenfalls medizinisch bescheinigt, die Ablehnungsquote durch die Krankenkassen läge bei unter zehn Prozent. Jansen befürwortet den Einsatz von Cannabis und ist sich sicher: „In drei bis fünf Jahren haben wir eine vollständige Freigabe“. Auch Roland Wagner hat das Cannabis-Seminar besucht, sich dann aber dagegen entschieden. Weil er das Gefühl hatte, noch nicht alle Optionen ausgereizt zu haben. Außerdem ist der Rausch, selbst wenn er leicht ist – eine entsprechende Mischung soll die Wirkung mindern – für einen Kraftfahrer nicht gerade optimal. Es gibt viele Patienten, die nicht „high“ sein wollen.

Schmerzschrittmacher kommen zum Einsatz

Die nichtmedikamentöse Therapie umfasst klassischerweise Physiotherapie, Yoga oder Tiefenentspannungstraining. Wobei Jan-Peter Jansen empfiehlt, für professionelles Yoga eine Physiotherapeutin zu besuchen und nicht an die Volkshochschule zu gehen. Auch Roland Wagner nimmt regelmäßig an den Kursen einer betrieblichen Rückenschule teil, die den Mitarbeitern helfen soll, Stress loszuwerden. Das Schmerzzentrum bietet eine weitere Methode an, die dann allerdings doch wieder mit einem physischen Eingriff verbunden ist: Die sogenannte Neurostimulation, auch Schmerzschrittmacher genannt. Dabei wird im Rücken an der Wirbelsäule eine Elektrode eingepflanzt, die zwei bis drei Jahre im Körper verbleibt und die Übertragung der Schmerzsignale hemmt. Die Patienten spüren statt des Schmerzes nur ein meist als angenehm empfundenes Kribbeln.

Und dann existiert noch eine völlig andere, definitiv sowohl nichtmedikamentöse als auch nichtinvasive Variante von Schmerztherapie. Jan-Peter Jansen packt überraschenderweise eine rote Clownsnase aus und setzt sie sich auf: „Humor ist ganz wichtig, um die eigenen Schmerzen besser zu meistern“, erklärt er. „Und Musik.“ Deshalb gab es in der Weißenseer Klinik eine Zeit lang ein Patientenorchester, die „Kapelle Schmerzfrei“. Und deshalb ist Jansen auch nebenberuflich Botschafter der von Eckart von Hirschhausen gegründeten Stiftung „Humor hilft heilen“. Klingt simpel, doch gerade das Einfache enthält ja oft tiefere Wahrheiten. Wenn nicht die ganze Aufmerksamkeit auf den Schmerz gerichtet ist, rückt er in den Hintergrund. Einigen seiner Patienten gibt Jan-Peter Jansen deshalb gerne augenzwinkernd den Rat mit auf den Heimweg: „Verlieben Sie sich mal wieder richtig.“

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