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Brrrr. Wer sich in sehr kaltes Wasser traut, wie diese Badegäste beim Anbaden im Strandbad Wannsee an einem Karfreitag, an dem noch Schnee lag, dem kann es passieren, das er vorübergehend das Gedächtnis verliert.

© Rainer Jensen/dpa

Bizarrer Gedächtnisverlust: „Die Erinnerung war komplett gelöscht“

Ein Neurologe erlebt eine besondere Art Amnesie, die durch das Schwimmen in kaltem Wasser, heißes Duschen, schweres Heben oder Sex ausgelöst werden kann. Ein Erfahrungsbericht.

Es passierte im Urlaub in Finnland. An die Paddeltour vor dem „Ereignis“ erinnere ich mich in Bruchstücken. Das meiste dieser zwei Stunden aber ist weg. Nach der Tour ist dann irgendetwas passiert. Was es war, fand ich erst viel später heraus. Zunächst war nur klar: Es war irgendetwas mit mir passiert, das nicht wehtut, das die Sprache nicht verändert und nicht die Koordination. Das mir aber das Gefühl gab, durcheinander zu sein. Deshalb bat ich meine Familie, mir Testfragen zu stellen. Es kam schnell heraus, dass ich zwar wusste, wo und wer ich war, dass ich mich an die letzten Tage und Wochen aber nur zum Teil erinnern konnte. Dass die Erinnerung der letzten Stunden größtenteils und die der letzten Minuten komplett gelöscht war. Das Denken selbst war aber völlig normal: strukturiert, logisch, nicht panisch. Allerdings nur mit einer Erinnerungsspanne von knapp zwei Minuten.

Das reicht, um einen begonnenen Satz zu Ende zu sprechen. Um eine Tasse Kaffee einzuschütten und zu trinken. Es reicht aber nicht, sich an die Tasse davor zu erinnern: Folglich trank ich fünf große Tassen! Auch weil ich dachte, mit einem großen Kaffee „wird das schon wieder“. Es wurde nicht.

Schlaganfall oder Hirnblutung?

Stattdessen habe ich immer wieder dieselben Fragen gestellt. Immer wieder – als Neurologe – meine Hirnnerven untersucht, weil ich befürchtete, einen Schlaganfall zu haben. Wir fuhren ins Krankenhaus nach Hämeenlinna, in die nächste erreichbare größere Stadt, nordwestlich von Helsinki. Dort wurde eine Computertomografie gemacht, um eine Hirnblutung auszuschließen (ich erinnere mich nicht). Ein EGK, um ein Vorhofflimmern auszuschließen (ich konnte es später wegen der Klebstoffreste auf der Brust vermuten). Das Gespräch mit dem aufnehmenden Arzt auf Englisch war problemlos. Wobei ich ihm sagte, dass ich Neurologe sei und er ganz offen reden könne. Wenige Minuten später wies ich darauf hin, dass ich Neurologe sei und er ganz offen reden könne. In denselben Worten. Immer wieder. Die Erinnerung hielt auch hier nur knapp zwei Minuten. Älteres war konsequent gelöscht – eher: gar nicht erst gespeichert!

Das Gedächtnis kommt ohne Behandlung zurück

Die Diagnose, die der finnische Arzt nach wenigen Minuten gestellt hatte, lautet Transiente Globale Amnesie (TGA) – eine vorübergehende Gedächtnisstörung, die „global“ die Erinnerung vor und nach dem „Ereignis“ betrifft. Was man über die TGA weiß, weiß man aus Erfahrung: Das Gedächtnis kommt nach wenigen Stunden ohne Behandlung zurück. Man weiß auch, was eine TGA auslösen kann: ´vor allem das Schwimmen in kaltem Wasser – weshalb das Syndrom auch „Amnesia by the seaside“, Gedächtnisverlust am Meer, genannt wird. Oder Sex. Oder auch heißes Duschen. Oder schweres Heben – das war es bei mir, wie sich herausstellte.

„Wir vermuten, dass ein erhöhter Druck im Oberkörper zu einem venösen Überdruck oder einem Blutrückfluss ins Gehirn führt. Und dass dies den Ausfall mitverursacht“, sagt Dirk Sander, Leiter der Neurologie am Benedictus-Krankenhaus in Tutzing. Mitverursacht! Denn „der kurze Überdruck reicht als alleinige Ursache nicht aus“. Es scheinen mehrere unbekannte Faktoren zusammenkommen zu müssen, bevor „es“ passiert.

Die Kernspintomographie zeigt erst viel später eine Veränderung

Was ist „es“? Auffällig ist: Wird der Patient nicht zu früh (!) ins Kernspin, in die Röhre, geschoben, dann kann man winzige Veränderung sehen. „Wir beobachten in etwa der Hälfte der Fälle ein Signal im hinteren Arm des Hippocampus“, sagt Sander. Der Hippocampus, paarig links und rechts im Gehirn, ist die Struktur, die für die Speicherung von Erinnerungen verantwortlich ist. Ebenfalls erstaunlich: Die Veränderungen zeigen sich nicht sofort, sondern frühestens zwölf Stunden nach Beginn des Ereignisses. Zu einem Zeitpunkt, an dem das Gedächtnis längst wieder normal funktioniert.

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„Das Geschehen im Gehirn muss sehr viel größer sein als nur die sehr kleinen sichtbaren Veränderungen im Bereich der Hippocampi“, sagt Kristina Szabo, Gedächtnisforscherin von der Neurologischen Universitätsklinik in Mannheim. „Die sind ja auch erst frühestens zwölf Stunden nach Beginn der Symptome sichtbar. Ich sehe sie eher als Rücklichter eines Zuges. Ein passendes Bild: Wenn man die Rücklichter sieht, ist der Zug längst vorbei. Und er ist sehr viel größer, sehr viel länger als nur sein Rücklicht. Wahrscheinlich sind größere Teile des Gehirns an dem Ausfall beteiligt – und möglicherweise hat es nur ganz am Rand mit Druck und Durchblutung zu tun.

Migränepatienten passiert so etwas häufiger als anderen

Thorsten Bartsch, Chef der Neurologischen Universitätsklinik in Kiel, vergleicht den Vorgang mit der Aura einer Migräne, die auf emotional belastende Situationen folgen kann: „Möglicherweise reagieren dabei Zellen im Hippocampus, die durch Stress überstimuliert wurden.“ Tatsächlich bekommen Migränepatienten überzufällig häufig eine TGA. Und auch Menschen in emotionalen Stressphasen.

Sehr merkwürdig ist die Vorstellung, dass der Gedächtnisverlust dem Betroffenen unter Umständen überhaupt nicht auffällt. Wenn die Erinnerung nur zwei Minuten weit in die Vergangenheit ragt, dann hat man kaum eine Chance, die Lücke zu bemerken. Man vermisst nichts! In meinem Fall hatte ich nur das Gefühl von Verwirrtheit, konnte diese aber erst im Gespräch konkretisieren. Ich habe später von Fällen gehört, in denen der Gedächtnisverlust nur bemerkt wurde, weil Auffälligkeiten in der Umgebung anders nicht erklärbar waren. Wie bei der Frau zu Weihnachten: Sie fand in ihrer eigenen Wohnung ausgepackte Geschenke unter ihrem Weihnachtsbaum, konnte sich aber an nichts erinnern. Sie verstand sofort, dass die Bescherung dort niemals ohne sie stattgefunden haben konnte. Und damit war ihr klar, dass sie ein Problem hatte – und sie rief verunsichert ihre Tochter an.

Es gibt wahrscheinlich eine sehr hohe Dunkelziffer

Ein Mann, Jäger, wollte ein von ihm gerade ausgenommenes Reh in die Kühlkammer hängen – und fand dort ein zweites frisch ausgenommenes Reh. Das Tier war noch warm, konnte also erst vor weniger als einer Stunde dort aufgehängt worden sein. Ihm war klar: Er musste es selbst geschossen, transportiert und ausgenommen haben – konnte sich aber an nichts erinnern. Es ist wahrscheinlich, dass die TGA eine sehr hohe Dunkelziffer hat – dass Menschen, die alleine leben und keine Kontakte haben, den Gedächtnisausfall überhaupt nicht bemerken.

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In meinem Fall war das Gedächtnis am nächsten Morgen, etwa neun Stunden nach Beginn der Symptome, wieder intakt. Das wussten meine Ärzte vorher und hatten konsequent auf weitere Untersuchungen verzichtet – so wie es auch in den deutschen Leitlinien zur Behandlung steht. Sie haben mich mit der Fähre von Helsinki zurück nach Travemünde fahren lassen. „Es wird Ihnen nichts passieren. Es gibt kein Risiko.“ Sie haben mich nicht als Patienten entlassen, sondern als gesunden Menschen, der eine beunruhigende und bizarre, aber risikolose und vermutlich einmalige Erfahrung gemacht hat.

In Deutschland wird oft erhebliche Diagnostik aufgefahren

Das ist, wie ich aus zahlreichen Gesprächen mit deutschen Kollegen weiß, hierzulande sehr oft ganz anders: Es wird erhebliche Diagnostik aufgefahren, auch aus Unsicherheit. Es werden Verhaltenstipps gegeben oder gar Medikamente verschrieben. Und so werden gesunde Menschen zu lebenslang verunsicherten Patienten gemacht, die eigentlich keine Patienten sind. Ich jedenfalls bin meinen finnischen Ärzten für ihren selbstbewussten Verzicht dankbar. Ich bin gesund!

Der Autor. Neurologe Magnus Heier erlebte eine kurzzeitige Amnesie.

© promo

Der Autor, Magnus Heier, ist promovierter Neurologe und Journalist. Das Erlebnis in Finnland hat er auch zu einer Folge des Podcasts „Das Gehirn und der Finger“, den er mit dem Berliner Moderator Daniel Finger gemeinsam macht, verarbeitet. Der Podcast findet sich unter https://www.podcast.de/podcast/786545. Weitere interessante Artikel rund um psychiatrische und neurologische Themen finden Sie im Gesundheitsratgeber „Tagesspiegel Psyche & Nerven“. Das Magazin kostet 12,80 Euro und ist erhältlich im Tagesspiegel-Shop, www.tagesspiegel.de/shop, Tel. 29021-520 sowie im Zeitschriftenhandel.

Magnus Heier

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