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© dpa/Jessica Lichetzki

„Die Ausgrenzung wird nicht kleiner“: Wie barrierefrei ist Berlin?

Kaputte Aufzüge oder schwer verständliche Durchsagen machen es Menschen mit Behinderung schwer, Bus und Bahn ohne Hilfe zu nutzen. Verkehrsunternehmen in Berlin rüsten kontinuierlich nach. Reicht das?

Nach 14 Jahren im Rollstuhl ist Jan Kajnath ein Profi in der Nutzung des Öffentlichen Nahverkehrs. Er kennt die Stationen, an denen es keinen barrierefreien Zugang gibt, checkt vor dem Losfahren online, welche Aufzüge in Berlin defekt sind und plant bei ungeplanten Strecken extra viel Zeit ein. „Ich fahre dann zwischen 30 Minuten und einer Stunde früher los, um sicherzugehen, dass ich pünktlich ankomme“, sagte der 46-Jährige, der stellvertretender Vorsitzender des Berliner Behindertenverbandes ist.

Auf der Rücklehne von Kajnaths elektrischem Rollstuhl klebt ein Sticker mit der Aufschrift „I love Vielfalt“. Vier bis fünfmal im Monat komme es vor, dass er vor einem Aufzug stehe, der nicht funktioniere. „Es ist leider Routine und Alltag, aber die Ausgrenzung wird deshalb nicht kleiner.“

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Zehn Prozent der Bevölkerung sind nach Schätzungen der Berliner Senatsverwaltung für Soziales zwingend auf Barrierefreiheit angewiesen. 30 bis 40 Prozent bräuchten sie als notwendige Hilfe bei der Bewältigung des alltäglichen Lebens. Ein Restaurantbesuch, eine Busfahrt oder das Finden einer barriefreien Wohnung ist für diese Menschen nicht ohne Weiteres möglich.

Special Olympics World Games

Um Inklusion zu fördern, wollen nicht zuletzt die bevorstehenden Special Olympics World Games, die zwischen dem 17. und 25. Juni in Berlin stattfinden, die Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderung erhöhen und Teilhabe fördern. Die Spiele sind die größte Sportbewegung für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung weltweit.

Doch können die rund 7000 Athletinnen und Athleten aus der ganzen Welt sich in Berlin „ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe“ bewegen, wie es das Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen vorsieht? Immerhin hatte sich der Berliner Senat im Jahr 2019 im sogenannten Nahverkehrsplan das Ziel gesetzt, den Öffentlichen Personen Nahverkehr (ÖPNV) bis Anfang 2022 vollständig barrierefrei auszubauen.

Jan Kajnath, stellvertretender Vorsitzender des Berliner Behindertenverbandes
Jan Kajnath, stellvertretender Vorsitzender des Berliner Behindertenverbandes

© dpa/Jessica Lichetzki

Den Einschätzungen der Berliner Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderungen zufolge, Christine Braunert-Rümenapf, konnte das Ziel nicht erreicht werden. „Es gibt zwar kontinuierlich Fortschritte beim Ausbau der Barrierefreiheit im ÖPNV, aber dies geschieht langsam. Viele Projekte dauern zu lange, sowohl in der Planung als auch in der Umsetzung“, sagte sie der Deutschen Presse-Agentur.

17 Prozent der U-Bahnhöfe sind Angaben der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) zufolge nur über Stufen erreichbar, 23 Prozent haben noch kein Blindenleitsystem. Von den 143 Bahnhöfen seien 134 mit Aufzügen und 8 mit Rampen ausgestattet. Von 816 Straßenbahnhaltestellen ist gut ein Viertel noch nicht barrierefrei. Bei der S-Bahn fehlt in Berlin und Brandenburg noch an acht von insgesamt 168 Bahnhöfen ein Aufzug. Auch wenn noch nicht alle Bahnhöfe zu 100 Prozent barrierefrei seien, steht Berlin nach Angaben eines BVG-Sprechers nicht schlecht da: „Im Vergleich der internationalen Metropolen mit vergleichsweise großen und alten U-Bahnnetzen sind wir schon sehr weit.“

Können Fahrgäste mit Mobilitätseinschränkung die U-Bahn zum Beispiel wegen eines kaputten Aufzugs nicht nutzen, bietet die BVG einen speziellen Service an. Im Rahmen eines Pilotprojekts entlang der U-Bahnlinie 8, Teilabschnitten der U7 und der U5 sowie zwischen den S-Bahnhöfen Attilastraße und Marienfelde etwa werden dann Kleinbusse eingesetzt.

Außerdem seien über das Angebot „BVG Muva“ im Osten Berlins barrierefreie Fahrten mit Rufbussen buchbar, die eine bessere Anbindung an den ÖPNV bieten sollen. Darüber hinaus gelte bei den meisten U-Bahnhöfen das Zwei-Sinne-Prinzip: Informationen stünden also sowohl schriftlich als auch akustisch, also per Durchsagen, zu Verfügung.

Auch beim Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg (VBB) tut sich etwas: Anlässlich der Special Olympics sollen im Juni zwei neue Apps an den Start gehen, die insbesondere Menschen mit geistiger Behinderung die Nutzung des Öffentlichen Nahverkehrs erleichtern sollen. In einfacher Sprache und mit Schritt-für-Schritt-Anleitungen sollen sie bei der Planung der Fahrt helfen. Wenn man den richtigen Weg nicht mehr weiß, sollen auf einfachem Wege gespeicherte Personen zur Hilfe angerufen werden können.

Zwei neue Apps

Für Gabriele Schuster käme die Nutzung der leicht bedienbaren Apps wohl trotzdem nicht infrage. Die 63-Jährige hat eine geistige Behinderung sowie eine Sehschwäche und sitzt im Rollstuhl. Schuster heißt eigentlich anders, möchte aber anonym bleiben. Mit technischen Geräten kommt sie nur schwer zurecht. „Ich brauche Menschen, die mit mir kommunizieren“, sagt Schuster, die bei der Berliner Behindertenzeitung arbeitet.

Für den Notfall hat Schuster daher immer ein Seniorenhandy mit großen Tasten dabei. Auf die Rückseite hat sie einen Zettel mit den Telefonnummern von wichtigen Kontakten geklebt. Bei der Nutzung von Bus und Bahn findet sie sich alleine nur schwer zurecht. „Die Durchsagen sind nicht in einfacher Sprache“, kritisiert sie. Auch die schriftlichen Informationen könne sie wegen ihrer Sehschwäche nur schwer lesen.

Auch aus Sicht von Jan Kajnath ist in Sachen Barrierefreiheit noch viel zu tun – selbst wenn sich in den vergangenen Jahren bereits viel verbessert habe. Müsste er Berlin eine Schulnote vergeben, wäre es wohl nur eine 4+ oder eine 3-. „Eine 1 könnte ich erst vergeben, wenn ich ohne nachzudenken einfach losfahren könnte und in alle Arztpraxen, Restaurants, Kultureinrichtungen, Geschäfte und so weiter reinkommen würde.“

In vielen Geschäften gebe es zum Beispiel keine Rampe für Rollstuhlfahrer – ganz zu schweigen von dem Problem, eine geeignete Wohnung zu finden. Nach Angaben der Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderungen lag der Mangel an barrierefreiem Wohnraum im Jahr 2019 bereits bei rund 106.000. Es sei davon auszugehen, dass die Zahl inzwischen deutlich darüber hinausgehe. Kajnath bemängelt zudem, dass barrierefreie Wohnungen in Neubauten viel zu teuer seien. „Barrierefreies Bauen ist für die Gesellschaft wichtig, denn ich will auch meine Familie und Freunde ohne Behinderung zu Hause besuchen können.“ (Mia Paulina Bucher, dpa)

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