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Erik Reger 1953 im Gespräch mit Bundeskanzler Konrad Adenauer.

© Andreas Petersen, Archiv

Der Tagesspiegel-Gründer vor seiner Berliner Zeit: Die Industrie, Adenauer, die Nazis und die „rituelle Wahrheit“

Das „Lesebuch Erik Reger“ macht frühe Reportagen und Essays neu zugänglich. In einem weiteren Sammelband steht der spätere Tagesspiegel-Gründer neben Kisch und Hemingway. Und es gibt noch viel wiederzuentdecken.

Von Markus Hesselmann

An Berlin arbeitet sich die Provinz stets gern ab, in dem Fall die „Ruhrprovinz“. Für einen „Weltbühne“-Artikel mit diesem Titel beobachtet Erik Reger 1928 einen „Guerillkrieg gegen die Geschichte, die Berlin zur Reichshauptstadt gemacht hat“. Denn, schreibt der damals selbst im Ruhrgebiet ansässige Publizist und Schriftsteller, die Vorurteile und Verschwörungstheorien seiner rheinisch-westfälischen Landsleute karikierend: „Berlin ist der böse Geist des Ruhrreviers. Es nimmt ihm alles fort und duldet nicht, daß ihm etwas gegeben werde.“ Der Kurfüstendamm, „aus dem bekanntlich Berlin besteht“, habe nun einmal eine Antipathie gegen das „Land der Arbeit“.

Klingt wie heutige Gegenüberstellungen eigener ehrlicher Arbeit und dadurch finanzierter Berliner Dekadenz, bekannt von sauerländischen und bayerischen Provinzbühnen. Und auch die in unserer Zeit ebenso verbreitete, nicht zuletzt aus Neid gespeiste Hassliebe zu Berlin spießt Reger schon auf. Denn „die kerndeutschen Eichen von der Ruhr“ können „es nicht vier Wochen aushalten“ ohne Berlin „gekostet zu haben“, „zu Studienzwecken natürlich“ - um dann zu versuchen, es zu imitieren.

Neben Thomas Bernhards „Städtebeschimpfungen“ besteht Regers „Ruhrprovinz“ mühelos. Allerdings sah der Autor, der 1893 mit dem Namen Hermann Dannenberger in Bendorf am Rhein als Sohn eines Grubenaufsehers geboren worden war und sich später wegen seiner Arbeit im Pressebüro von Krupp für seine publizistische und literarische Tätigkeit das Pseudonym Erik Reger zugelegt hatte, auch Hoffnungsvolles.

Das “Lesebuch Erik Reger“ wurde von Erhard Schütz herausgegeben und ist im Aisthesis-Verlag erschienen.
Das “Lesebuch Erik Reger“ wurde von Erhard Schütz herausgegeben und ist im Aisthesis-Verlag erschienen.

© Aisthesis Verlag

Und zwar in einer Jugend „ohne Kulturpathos, ohne die Ethik der ‘ewigen Werte’“, einer Jugend, die „Wirklichkeitssinn hat und die Mechanik der Maschinenzeit durch Selbstverständlichkeit überwindet“. Sätze, die dazu einladen, auch heute Hoffnung auf junge Menschen zu setzen, die mit der Digitalisierung ohne die Mythen ihrer Eltern kritisch-produktiv umgehen.

„In Sachen Stadtschaft“ wurde von Dirk Hallenberger herausgegeben und ist im Verlag Henselowsky Boschmann erschienen.
„In Sachen Stadtschaft“ wurde von Dirk Hallenberger herausgegeben und ist im Verlag Henselowsky Boschmann erschienen.

© Henselowsky Boschmann

Im vergangenen Jahr wurde Regers literarisches Hauptwerk, der 1931 erschienene, mit dem Kleist-Preis ausgezeichnete Industrieroman „Union der festen Hand“, nach langer Zeit wieder neu aufgelegt.

In diesem Jahr sind zwei Bücher herausgekommen mit Artikeln des Tagesspiegel-Gründers, verfasst größtenteils vor seiner Berliner Zeit: Das „Lesebuch Erik Reger“, zusammengestellt von Erhard Schütz und „In Sachen Stadtschaft. Literarische Reportagen und Aufzeichungen zum Ruhrgebiet 1923 bis 1973“, herausgegeben von Dirk Hallenberger.

Im erstgenannten Band geht es, wie der Titel schon sagt, ausschließlich um Reger, im zweiten steht Reger mit seiner polemisch-essayistischen Reportage „Ruhrprovinz“ (auch Teil des Lesebuchs) neben Autor:innen wie Ernest Hemingway, Egon Erwin Kisch, Larissa Reisner, Joseph Roth und Lisa Tetzner. Umfassend versammelt wurden Regers „Kleine Schriften“ in zwei gleichnamigen Bänden 1993, herausgegeben ebenfalls von Erhard Schütz und nur noch antiquarisch zu haben.

Wiederveröffentlichung verdiente daraus vieles, nicht zuletzt die „Naturgeschichte des Nationalsozialismus“, erschienen 1931 als Artikelserie in der „Vossischen Zeitung“, mit hellsichtigen, in unseren Trumpistischen Zeiten aktuell wirkenden Passagen.

„Trifft ihn also der Vorwurf der Korruption und Unehrlichkeit, der gewissenlosen Demagogie?“, fragt Reger zwei Jahre vor der Machtübergabe an Hitler mit Blick auf den erstarkenden Nationalsozialismus. „Ja, er trifft ihn, aber er fügt ihm keine Verluste zu, weil eben diese negativen Elemente sein Fundament ausmachen, und nicht bloß als ornamentale Stilverwirrungen aufgesetzt sind. Jemand, der zwar alle Tage lügt, aber die Lüge in den Rang einer rituellen Wahrheit erhoben hat, kann nicht mehr dadurch unschädlich gemacht werden, daß man ihm von Fall zu Fall eine Lüge nachweist.“

Folgt auf die Wiederveröffentlichung der „Union der festen Hand“ bald „Das Wachsame Hähnchen“? Regers zweiter Roman, erschienen 1932, wäre es ebenso wert. Nach der Großindustrie geht es hier um Kommunalpolitik und -wirtschaft, in einem Schlüsselroman, in dem sich Konrad Adenauer wiedererkannte und darüber ärgerte.

„Der Regierungschef kannte Reger aus der Vor-Hitler-Zeit“, schrieb der frühere Regierungssprecher Klaus Bölling, der zu Regers Zeiten beim Tagesspiegel volontiert hatte, ebenda 1991. Adenauer habe Reger geachtet „als politischen Kopf, hatte aber weder vergessen noch gar vergeben, daß der Tagesspiegel-Herausgeber in einem anderen Schlüsselroman (Das wachsame Hähnchen) dem Kölner Oberbürgermeister und seinem ’Klüngel’ heftig zugesetzt hatte“.

Im Reger-Lesebuch findet sich ein Auszug über „Wahnstadt“ (Essen), das mit „Eitelfeld“ (Düsseldorf) und „Kohldorf“ (Köln) im Standort-Wettstreit liegt. Die Stadt wächst unkontrolliert, „unorganisch“, dabei muss doch der Städtebau einer „Generalidee“ folgen oder deren Ausprägung, einem „Generalbauplan“. Dass da Vieles militärisch und totalitär klingt, ist kein Zufall.

Sagt der Architekt zum Chef des City-Vereins: „Sie verstehen, was mir vorschwebt? Eine einheitliche Architektur vom Grashalm bis zum Dachziegel. In der Altstadt verschwinden alle Wohnungen. Es gibt dort keine Kinder mehr auf der Straße. Frauen kommen nur gastweise hin, zum Einkauf, oder als Stenotypistinnen, Verkäuferinnen, Packerinnen, rasch ins Geschäft, rasch zum Imbiss, rasch nach Hause. Hier herrschen der Kaufmann und der Gaststättenbesitzer. Es ist die Männerstadt.“

Dass da kein Stein auf dem anderen bleibt, ist abzusehen - aber anders als von den Protagonisten gedacht. Mit späterem Wissen kommt ein sich verbietender Nazi-Vergleich in den Sinn (Speer! Berlin! Germania!). Städtebaulicher und verkehrspolitischer Größenwahn sind jedenfalls kein Alleinstellungsmerkmal der Nazis.

Auch ein Text aus der Nazizeit ist in der Sammlung enthalten, auch dessen Handlung spielt in Essen. Reger schreibt zum 15. Jahrestag eines tödlichen Vorfalls von 1923 während der Ruhrbesetzung durch die französische Armee, als deren Soldaten protestierende Krupp-Arbeiter erschossen.

„Was hätte 1938 also näher gelegen, als den Erzfeind Frankreich anzuklagen“, schreibt Herausgeber Schütz in seinem Nachwort. Stattdessen wendet sich Reger grundsätzlich gegen „kriegerische Auseinandersetzungen zwischen zwei Nachbarvölkern“ und kritisiert nicht die Franzosen im Besonderen, sondern das Militär allgemein. „Nicht verwunderlich, dass das nicht gedruckt wurde“, so Schütz weiter. Der Artikel wurde in Regers Nachlass entdeckt.

Als öffentlich bekannter Nazigegner war Erik Reger in die Schweiz emigriert, durfte dort aber nicht arbeiten und „muss 1936 wegen ‘Überfremdung’ das Land wieder verlassen“ (Erhard Schütz). Zurück in Deutschland arbeitete Reger in der Werbeabteilung von Boehringer in Mannheim und schließlich in Berlin beim „arisierten“ Ullstein-Verlag, nun „Deutscher Verlag“, kontrolliert von den Nazis.

Reger ging die Kompromisse und Kompromate der „inneren Emigration“ ein, wurde in die „Reichsschrifttumskammer“ aufgenommen, aber wegen seiner publizistischen Vergangenheit auch immer wieder attackiert. Was ihn nicht daran hinderte, in einem fort zu publizieren, zum Beispiel historische Romane bei Rowohlt oder, laut Schütz, stetig Feuilletons „für die großen Tageszeitungen, Illustrierten und Magazine“, dem NS-Forscher Ernst Klee zufolge etwa auch im Nazi-Blatt „Krakauer Zeitung“.

Den Abschluss des Lesebuchs bildet ein Tagesspiegel-Artikel von 1953. Hier geht es um den Aufstand vom 17. Juni in der DDR. Regers antitotalitäre Haltung auch gegenüber dem kommunistischen Regime wird deutlich. Und seine Identifikation mit Berlin, genauer: Westberlin, „wir“.

Aber nicht nur: „Zum erstenmal sind es die Ostberliner, die den Namen Berlins als einer der sicheren Stützen des Freiheitskampfes in alle Welt tragen“, schreibt Reger begeistert und sieht eine Wechselwirkung: „Als in der Blockadezeit Westberlin ein Beispiel gab, haben wir immer auch der Bevölkerung Ostberlins gedacht, von der wir wußten, daß sie auf unserer Seite stand...“ Dieses Wissen um moralische Unterstützung durch viele Menschen im Osten habe den Widerstandswillen in der Zeit der Luftbrücke im Westen gestärkt.

Tagesspiegel-Gründer Erik Reger (1893 - 1954).
Tagesspiegel-Gründer Erik Reger (1893 - 1954).

© Tsp-Archiv

Ein Jahr später starb Reger, gerade 60-jährig, während einer Tagung in Wien. Sofort aufkommende Gerüchte, dass sowjetische Geheimdienstler sich eines prominenten West-Berliner Anti-Kommunisten entledigen wollten, haben sich bis heute nicht erhärten lassen.

„Höchstwahrscheinlich ist er doch eines natürlichen Todes gestorben“, schreibt Erhard Schütz. „Der Obduktionsbefund nennt Herzversagen und bescheinigt einen desolaten Gesundheitszustand.“

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