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Biermann

© Ullstein/ADN

Wolf Biermann: Der Spion, der aus dem Regen kam

Wie Wolf Biermann zum Stasi-Besetzer wurde – und das Recht auf Akteneinsicht für alle miterkämpfte.

Der Westbesuch erschien, als habe er sich für seinen Auftritt als Geheimagent verkleidet. Im hellen Trenchcoat schritt Wolf Biermann an diesem 5. September 1990, einem trüb verregneten Mittwoch, entschlossen auf die Volkspolizisten zu, die den Zugang zur Stasi-Zentrale in Lichtenberg versperrten. In den letzten Tagen der DDR hatten die Sicherheitskräfte dem Sänger mit dem Schnauzbart nicht mehr viel Autorität entgegenzusetzen. Auch ihre Uniformen wirkten nur noch wie Verkleidungen. Mützen, Jacken, Dienstabzeichen wurden seit Monaten auf Flohmärkten als Souvenirs gehandelt.

Im Begleitpulk der Presse hatte Biermann die Barriere binnen kurzem überwunden und wunderte sich später selbst, wie leicht er den monströsen Betonkomplex zu erobern vermochte. „Womöglich irritierte mein zeröffentlichtes Gesicht die Uniformierten, egal dumpfer Mythos oder bunte Legende, irgendwie verwechselten sie mich mit Biermann und ließen mich durch.“

Hinter der Stahltür am Eingang Ruschestraße leistete auch der letzte verbliebene Polizist keinen Widerstand mehr. Biermann, einen Kopf kleiner, baute sich vor ihm auf, fragte, worauf er denn hier noch aufpasse, und erklärt den Anwesenden, warum er gekommen sei: „Ich hatte so oft unangemeldeten Besuch von der Stasi, da wollte ich jetzt auch mal vorbeikommen.“

Biermann war in besonderer Mission aus Hamburg angereist. Am Tag zuvor waren 21 Bürgerrechtler, sechs Frauen und 15 Männer, in Haus 7 des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) eingedrungen und hatten sich im Bürotrakt des Zentralarchivs in einem Abstellraum verschanzt – nur eine Stahltür trennte sie von den sechs Millionen Akten mit Personaldossiers, die Mielkes Spitzel in 40 Jahren angehäuft hatten. Die Besetzer, unter ihnen die Bürgerrechtler Bärbel Bohley, Ingrid Köppe, Reinhart Schult, Hans Schwenke und Katja Havemann, Witwe des Schriftstellers und DDR-Dissidenten Robert Havemann, forderten die Herausgabe ihrer persönlichen Stasi-Akten. Und sie verlangten, dass für jeden Bürger der künftigen Bundesrepublik das Recht auf Einsichtnahme in seine Akte im Einigungsvertrag festgeschrieben wird. Dessen Entwurf wurde zur selben Zeit im Bonner Bundestag beraten. Erst zehn Tage zuvor hatte die DDR-Volkskammer ein Gesetz beschlossen, das eine Stasi-Unterlagenbehörde unter Hoheit der künftigen Ost-Bundesländer vorsah. Doch die Unterhändler des Einigungsvertrages, Wolfgang Schäuble für die Bundesrepublik und Günter Krause für die DDR (beide CDU), neigten wie viele Politiker in Ost und West eher einer Schlussstrich-Mentalität zu. Die Stasi-Akten sollten im Koblenzer Bundesarchiv eingelagert werden, wo sie auf Jahrzehnte dem Zugriff bundesdeutscher Behörden vorbehalten geblieben wären – einschließlich der Geheimdienste. Für die Bürgerrechtler, die unter dem DDR-Spitzelsystem gelitten und erfolgreich für die Auflösung des MfS gestritten hatten, eine unerträgliche Vorstellung.

Die Nachlassverwalter der Mielke-Behörde unter Aufsicht des DDR-Innenministers Peter-Michael Diestel (CDU) setzten auf die Vernichtung des Stasi-Erbes. Während die Bürgerrechtler vor der Stahltür des Zentralarchivs wachten, liefen im Keller die Papiermühlen heiß. Jede Nacht, erzählten die Besetzer, beobachteten sie durchs Fenster, wie lastwagenweise Akten fortgeschafft würden. Schriftsteller Lutz Rathenow beklagte, die Regierungskommission zur MfS-Auflösung halte „den Reißwolf für das geeignete Mittel, die Zukunft nicht zu vergiften“.

Für Wolf Biermann gab es also Gründe genug, seine Ankunft in der Normannenstraße als medienwirksame Show zu inszenieren. Er verschwand in einem leerstehenden Gebäude neben dem Eingang. Minuten vergingen. Schließlich kehrte er von seiner Hausdurchsuchung zurück – mit einer Klobürste. Wie ein Zepter hielt er sie in der Hand. So stand er da und erzählte von seinem Vater, der in Auschwitz umkam, von den Stasi-Verfolgungen, die er selbst erlebt hatte, bis die Bürste für die bittere Pointe zum Einsatz kam: „Und das ist nun alles, was von den beiden deutschen Diktaturen übrig geblieben ist.“ Dann entschwand er über den Hof ins Haus Nummer 7.

Am 28. September 1990, nach zweiwöchigem Hungerstreik, den die Besetzer dank freizügiger Fruchtsaftzufuhr überstanden, hatten sie ihr Ziel erreicht. Der Einigungsvertrag war einige Seiten dicker geworden, die spätere „Gauck-Behörde“ wurde Gesetz, die Forderungen der Stasi-Besetzer waren erfüllt. Es war der letzte große Auftritt der DDR-Bürgerrechtsbewegung. Fünf Tage darauf mündete die friedliche Revolution in die deutsche Einheit. Stephan Wiehler

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