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Und dann singt nur noch einer. Die letzte Strophe drückt Detlef mit aller Kraft heraus, fast schreit er. Dann, kurze Stille, schwappt der Beifall von 1500 Menschen über ihm zusammen. Der Weddinger genießt den Applaus nicht lange, stets nimmt er rasch seinen Beutel und verschwindet wieder.

© David von Becker

Karaoke: Der Mauerpark-Apostel

Tausende hören ihm zu, an jedem Wochenende, er ist der heimliche Star. Immer singt er sein Lied: "Mein Weg". Der Mann heißt Detlef. Und hat ein Anliegen.

Gottes Stimme versteckt sich hinter einem langen, grauen Bart. Die Luft ist bunt, Popmusik flimmert über den warmen Steinboden. Im Mauerpark trifft sich die Stadt zur Massenkaraoke. Und Detlef, leicht untersetzt und wie von einer unsichtbaren Last gebeugt, wirkt, als wäre er nur zufällig vorbeigekommen, angelockt von Bässen und schiefen Tönen. Doch er wird singen, weil er immer singt. Wie an jedem Sonntag.

Denn Detlef hat eine Mission. „Ich will die Leute zu Gott bringen“, sagt er, die hektischen Augen groß unter dem von der Hitze strähnigen Haar. Und sein Gesicht, das unter dem Bart ein überraschend junges ist, hellt sich merklich auf. Deshalb singt er im Mauerpark. Auf dem kleinen Papierstück, das Detlef bei Joe Hatchiban hinterlegt – er ist der Veranstalter der Karaoke im Mauerpark – , steht neben „Detlef mit F“ wie immer auch „My Way“. Doch Detlef singt nie Sinatra, er singt die deutsche Version von Hermann Prey, die er an einigen Stellen so verändert hat, dass sie den Weg zu Jesus ebnet.

Die Sonne wird durch die Bierflaschen des Publikums wie von einer in ihre Einzelteile zerfallenen Diskokugel reflektiert. Der Mauerpark schwitzt. Aber Detlef trägt dasselbe Outfit wie in der vergangenen Woche. Und in der Woche davor. Und in der Woche davor. Einen dunklen Blouson, ein graues kariertes Hemd, dazu, als einziges extravagantes Accessoire, rote Hosenträger, die eine Stoffhose halten, die ihm zieharmonikaartig auf die schwarzen Lederschuhe fällt. Er hält sich an einem schwarzen Karstadt-Leinenbeutel fest. Sein Erkennungsmerkmal. Wie bei Sinatra der Hut.

So steht er da und zählt im Kopf nach, wie viele Sänger noch vor ihm sind. „Meine Oma konnte gut singen. Aber die Stimme habe ich von Gott“, sagt er und dabei schleichen die Worte brüchig, fast ängstlich aus seinem Mund, als müssten sie Schläge fürchten. Der heute 58-Jährige trägt noch immer seine Kindheit in dieser Stimme.

Sein Vater sei nie gut zu ihm gewesen, erzählt er. Als Detlef fünf Jahre alt ist, zieht die Mutter mit ihrem Sohn zur Großmutter nach Wedding. Noch heute wohnt er in der Wohnung, die er sich fast sein ganzes Leben mit den beiden Frauen geteilt hat. 1991 stirbt die Großmutter. Sie hatte eine schöne Alt-Stimme. Acht Jahre später stirbt auch die Mutter. Und Detlef ist plötzlich allein. Eine Frau hat er nie gefunden. Wie auch, er hatte ja schon zwei. Nach dem Tod der Mutter findet er zu Gott. Über den Pfarrer, der sie beerdigt hatte. Er lädt Detlef zum Bibelkreis ein. Und Detlef geht hin, findet dort eine Ersatzfamilie. Er lässt sich noch einmal im Glauben taufen und beschließt, das Wort Gottes zu verbreiten. Als Karaoke-Apostel. Denn die Auftritte vor dem leeren Orchester sind Detlefs große Leidenschaft. Seit Jahren singt er fast jede Nacht in Bars und Kneipen, auf Open-Mic-Veranstaltungen und Poetry-Slams. Meist alte Schlager. Aber auch russische Volkslieder. „Vor dem Tod meiner Mutter habe ich auch schon gesungen, aber mehr zum Spaß.“ Jetzt nutzt er öffentliche Karaoke-Veranstaltungen, um von Gott zu erzählen. Und trägt „Mein Weg“ als seinen persönlichen Gospel schließlich auch in den Mauerpark.

Im Juni 2009 steht Detlef das erste Mal in der Manege des Amphitheaters im Mauerpark. Er hatte von der Karaoke gelesen, daraufhin seinen schwarzen Karstadt-Beutel gepackt und sich auf den Weg gemacht. Auch damals schreibt er „My Way“ auf den Zettel. Doch weil Sinatras melancholische Hymne zu jenen Songs gehört, die bei Joe Hatchiban auf dem Karaoke-Index stehen, muss er sich erst einmal mit „Amazing Grace“ begnügen. Seiner ungeliebten B-Seite. Doch er kommt jede Woche wieder und bekniet Hatchiban, endlich sein Lied singen zu dürfen. So lange, bis der Ire nachgibt. Die Karaoke findet an diesem Tag an der Siegessäule statt. Und Detlef mit F feiert unter der Goldelse seine ganz eigene große Sternstunde. Danach muss er nie mehr „Amazing Grace“ singen.

Die Dramaturgie aber ist dieselbe geblieben. Detlef wartet, während die Szene die Refrains einer Jugend gröhlt, die gar nicht ihre war. Shiny Happy People. Wenn nur noch ein Lied vor seinem ist, schiebt er sich vorsichtig auf die Bühne. Kurz bevor er Joe Hatchiban das Mikrofon aus der Hand nimmt, wirft er noch hastig einen Blick in die Menge. Viele Gesichter haben ihn schon einmal gesehen. Er ist ja längst so etwas wie der heimliche Star hier. Die ersten Takte heben an. Weltberühmt. Und Detlef singt. Seine Stimme legt sich über das Amphitheater und das Publikum, etwa 1500 Menschen, von denen viele zuvor noch gelacht haben über den scheinbar verwirrten Mann in der viel zu warmen Kleidung, staunt, applaudiert. Der Mauerpark hat Gänsehaut.

Die letzte Strophe drückt er mit aller Kraft heraus, fast schreit er. Dann, kurze Stille, schwappt der Beifall über Detlef zusammen. Während die Ovationen stehen, nimmt er seinen Beutel und verschwindet sofort hinter den Schirmen der provisorischen Bierstände. Denn er muss weiter. Zu seinem nächsten Auftritt. Auf einem Straßenfest in Hellersdorf. Die Leute dort warten auf ihn, sagt er. Auf die Stimme Gottes. Das ist sein Weg, wie an jedem Sonntag.

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