zum Hauptinhalt
Der Mittelstreifen der Tauentzienstraße wurde vor Jahren neu gestaltet. Rechts und links davon sind drei Spuren für den Verkehr.

© Christoph Soeder/pa/dpa

Exklusiv

Demo in der Berliner City-West: Tauentzienstraße soll autofrei werden

So fing es auch in der Friedrichstraße an: Ein paar Stunden ohne Autos – als Test. Und als Ausgangspunkt für einen anderen Straßenverkehr in der City.

Um Rasen kümmern sich die Veranstalter selbst. Liegestühle dürfen mitgebracht werden, Malkreide sowieso, und die Notwendigkeit des Bobbycar-Rennens als Programmfinale lässt sich mühelos begründen. Auf eine Eisbude oder einen Bratwurststand verzichten die Organisatoren allerdings lieber, wenn sie am kommenden Sonnabend die Tauentzienstraße für den Autoverkehr sperren lassen.

Denn übermäßige Gemütlichkeit könnte den Eindruck erwecken, dass es sich bei der angemeldeten Demonstration um ein Straßenfest handelt. Sie wollen zwar Spaß haben, aber sie sind nicht zum Spaß dort. Vielmehr soll die Demo der Beginn einer Revolution werden. Einer, die die Dominanz des Autoverkehrs im Herzen der City-West brechen soll.

Von 11 bis etwa 14 Uhr will das überparteiliche, aber von Grünen dominierte Bündnis „Stadt für Menschen“ am 10. Oktober den Abschnitt der Tauentzienstraße zwischen Marburger und Rankestraße bespielen. Der Bereich ist nur 100 Meter lang, aber besonders prominent, weil er direkt am Breitscheidplatz und gegenüber dem Europacenter liegt. „Wenn mehr als 1000 Leute kommen, können wir die Fläche bis zu Nürnberger Straße ausdehnen“, sagt Matthias Dittmer, der sowohl in der Landesarbeitsgemeinschaft Mobilität der Grünen als auch bei „Stadt für Menschen“ den Ton angibt.

Das Personal hinter der jetzt geplanten Aktion ist großenteils dasselbe, das im Advent 2018 die zweistündige autofreie Premiere auf der Friedrichstraße initiiert hat. Eine Premiere, auf die zurzeit bekanntlich der gut fünfmonatige Feldversuch folgt. Wobei Dittmer nicht ausschließen würde, dass der in die Verlängerung geht, weil sich die große Mehrheit bis Januar daran gewöhnt hat, dass es in der Friedrichstraße nicht mehr stinkt und lärmt.

Zwar ähnelt das aktuelle Arrangement der Gartenabteilung von Baumärkten. Aber selbst an diesem frischen Oktobermorgen, an dem Dittmer in eine Decke gehüllt vor einem Café die Pläne für den Tauentzien präsentiert, sind die provisorischen Sitzgelegenheiten einigermaßen frequentiert.

Schon bisher war die Tauentzienstraße manchmal kurzzeitig gesperrt, wie hier zum Halbmarathon 2019.
Schon bisher war die Tauentzienstraße manchmal kurzzeitig gesperrt, wie hier zum Halbmarathon 2019.

© Kai-Uwe Heinrich

[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Das Rezept für den Tauentzien ähnelt dem, was hier erprobt wurde: eine Mischung aus Ernst und Unterhaltung. Die beginnt in der City-West mit einem Gedenken an die mittlerweile 42 Berliner Verkehrstoten dieses Jahres. Der Ort ist auch deshalb symbolträchtig, weil genau hier der bundesweit beachtete Ku’damm- Raser-Mord begangen wurde. Über den soll bei einer Podiumsdiskussion ebenso geredet werden wie über den Terroranschlag am Breitscheidplatz, in dessen Gefolge der Platz auf Kosten von Ästhetik und Barrierefreiheit gegen Fahrzeuge gesichert wurde.

Die Organisatoren rechnen mit interessierten Anwohnern

Auf dem Podium wird auch der Notfallseelsorger Justus Münster erwartet, der wie kaum ein anderer weiß, was Unfälle und Anschläge für die Opfer und ihre Angehörigen bedeuten. Beim Thema Verkehrssicherheit rechnen die Organisatoren mit großem Interesse der Anwohnerschaft, die regelmäßig erlebt, wie hoch motorisierte Angeber den am Ku’damm beginnenden „Generalszug“ unsicher machen. Der letzte Raserunfall mit schwerstverletzten Unbeteiligten ist erst einen Monat her.

Auf die schwerste Kost folgt mittelschwere: Kiezblockplanung, wie sie kürzlich unter Regie des Vereins „Changing Cities“ in Pankow praktiziert wurde. Das Kiezblockkonzept bezeichnet die in anderen Ländern schon vielfach umgesetzte Konzentration des Durchgangsverkehrs auf Hauptstraßen, die um verkehrsberuhigte Wohnviertel herumführen. Am Tauentzien ist auch die bezirkliche FDP dafür aufgeschlossen – sofern die Sperrung Teil eines Gesamtkonzepts ist. Dittmer nennt die hinter dem KaDeWe entlang führende Lietzenburger Straße als Alternativroute für den Autoverkehr.

[340.000 Leute, 12 Newsletter: Alles, was in Berlins Bezirken wichtig wird, gibt es hier: leute.tagesspiegel.de]

Am Tauentzien wird der Stadtplaner Martin Aarts erwartet, der als oberster Umgestalter von Rotterdam prominent geworden ist und zeitweise in Berlin gewohnt hat, wo er mit Studenten beispielsweise Konzepte fürs Tempelhofer Feld erarbeitet hat.
Aarts beteiligt sich auch an einer Diskussion zur Zukunft des Breitscheidplatzes mit dem Charlottenburg-Wilmersdorfer Bezirksbürgermeister Reinhard Naumann (SPD) und Martin Germer, dem Pfarrer der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Germer hat schon vor Monaten die Verschandelung des Platzes durch die martialischen Lkw-Blocker beklagt.

Großformatige Visualisierungen des Ortes schaffe man aus Kostengründen vorerst nicht, sagt Dittmer. Aber er vertraut auf die erprobte Fähigkeit Aarts’, auch mündlich Visionen zu entwerfen. Etwa die, wie es wäre, wenn man einfach zwischen Bikinihaus und Gedächtniskirche flanieren könnte? Nur mal als Beispiel, sagt Dittmer. Die Zukunft der Budapester Straße werden sie in jenen drei Stunden nur streifen können. Aber die Erfahrung lehrt, dass Ideen oft in der Welt bleiben, wenn sie einmal deren Licht erblickt haben.

Der grüne Vorzeigeradler kommt natürlich auch

Für einen Blick über den Tellerrand ist außerdem Cem Özdemir avisiert, Vorsitzender des Verkehrsausschusses im Bundestag. Fürs Lokalkolorit ist Mauerweginitiator Michael Cramer eingeladen. Der grüne Vorzeigeradler gehörte 15 Jahre dem Abgeordnetenhaus und ebenso lange dem Europaparlament an. Als Pensionär konzentriert er sich auf sein Lebenswerk „Radweg Eiserner Vorhang“.

Nach einem Auftritt der neuen Grünen-Konkurrenzpartei Radikal:Klima und von Fridays for Future zum Thema städtische Mobilität beginnt der heitere Teil: Tauzieh’n am Tauentzien – wobei die Straße nach einem preußischen General benannt ist. Das Seil sei durch mehrere Enden auf jeder Seite coronasicher, sagt Dittmer. Wer auf Gruppenaktivitäten lieber verzichtet, kann Lastenräder testen oder seine Kinder auf einen Fahrradparcours schicken. Fürs Wohlbefinden soll eine Fuhre Kunstrasen auf dem Asphalt sorgen. Der ist zwar ökologisch heikel, aber echten Rasen habe die Versammlungsbehörde wegen der Rutschgefahr auf der mutmaßlich zurückbleibenden Erde abgelehnt, berichtet Dittmer.

„Die Evangelische Kirche war unser erster Kooperationspartner“, sagt er über die Vorbereitungen. Und die AG City als Interessenvertretung der Geschäftsleute? Dittmer schüttelt den Kopf: Verbündete seien dort nicht erkennbar gewesen.

Die AG City lädt an diesem Montag zu einem Pressegespräch unter dem Motto: „Mobilität im Kontext der Charta City West 2040“. Ob der Termin Zufall ist oder eine Abwehrmaßnahme gegen die Pläne von „Stadt für Menschen“, ließ sich am Wochenende nicht klären.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false