zum Hauptinhalt
Aus Weimar nach Berlin. Wie die Protagonistin aus ihrem Roman „1000 serpentinen angst“ zog auch Olivia Wenzel in die große Stadt.

© Doris Spiekermann-Klaas TSP

Debütroman von Olivia Wenzel: Vom Aufwachsen in Ostdeutschland - als Schwarze

In „1000 serpentinen angst“ erzählt die Wahlberlinerin Olivia Wenzel eine Geschichte, die ihrer eigenen ähnelt - und trifft damit einen Nerv.

Ein leichter Nebel liegt über der kleinen Wohnsiedlung im Berliner Westen, wo die Musikerin und Autorin Olivia Wenzel lebt. Akkurate Rasenflächen erstrecken sich vor den Häuserblöcken. Vereinzelt hängen lächelnde Zwergenfiguren in den Bäumen – eine städtische Variante des Gartenzwergs, die nicht weniger irritierend wirkt als das Original. „Den Laubengang bis ganz nach hinten“, sagt Olivia Wenzel durch die Gegensprechanlage. Mit noch feuchten Haaren öffnet sie die Tür. „Ich bin etwas spät heute dran“, sagt sie und verschwindet noch mal im Bad.

Kurz darauf sitzt sie in ihrem kleinen Arbeitszimmer an einem weißen Schreibtisch mit Laptop und Computer, aus dem kompakten Regal an der Wand leuchten bunte Buchrücken: von deutschsprachiger Gegenwartsliteratur hin zu Klassikern, Büchern zu Theatertheorie, auch dicke Ordner. Hinter ihrem Schreibtischstuhl hängt ein goldenes Lamettakostüm – Überbleibsel einer Theaterproduktion.

Die 35-Jährige macht unter dem Namen Otis Foulie Musik und ist Theaterautorin. Ihre Stücke sind unter anderem am Deutschen Theater, am Gorki Theater, am Ballhaus Naunynstraße in Kreuzberg, aber auch an den Münchner Kammerspielen und am Hamburger Thalia Theater aufgeführt worden. „Schon als Kind habe ich Theater gespielt, mir Lieder ausgedacht, kleine Geschichten geschrieben. Kreativsein ist meine Zuflucht, eine Art Zuhause, in dem ich absolut bei mir sein und mich gleichzeitig vergessen kann“, erzählt sie.

Mit „1000 serpentinen angst“ erschien in dieser Woche ihr erstes Buch. Als sie vor drei Jahren beim Literaturfestival Prosanova in Hildesheim, wo sie auch studiert hatte, zusammen mit dem Schauspieler Martin Schnippa einen Auszug aus ihrem Debütroman – damals noch eine lose Textsammlung – las, entfachte sie einen kleinen Hype. „Nach der Lesung kamen viele Verlage auf mich zu und ich habe zwei gute Schreibstipendien erhalten.“

„Mir ist viel Scheiße passiert“

Noch vor der Veröffentlichung hat sie Anfang des Jahres den Literaturpreis der Stadt Fulda für das beste Debüt erhalten. „An schlechten Tagen verstehe ich Honorare oder Preise, die ich gewinne, als Schmerzensgeld. Mir ist viel Scheiße passiert in der Gesellschaft und jetzt gebe ich es ihr, literarisiert natürlich, zurück.“

[In unseren Leute-Newslettern aus den zwölf Berliner Bezirken befassen wir uns regelmäßig unter anderem mit Literatur. Die Newsletter können Sie hier kostenlos bestellen: leute.tagesspiegel.de]

Ihre Biografie lässt erahnen, warum: Als Kind einer weißen Mutter aus Ostdeutschland und eines schwarzen Vaters aus Sambia wuchs sie in der Nähe von Weimar auf. „Dort lebten wenige Schwarze, wir wurden ständig verwechselt.“

Die alltäglichen rassistischen Kommentare, unheimliche Begegnungen mit Nazis in der Öffentlichkeit – Konstanten in ihrem Leben, die sie auch in ihrem Roman thematisiert: Eine junge schwarze Frau, die in Ostdeutschland Ende der 1980er Jahre auf die Welt kommt, später nach Berlin zieht und getrieben ist – von den Menschen in ihrer Umgebung, dem toten Zwillingsbruder, der überforderten Mutter und dem abwesenden Vater. Zwischen Monolog und Dialog mit einer nicht greifbaren Stimme hinterfragt sie alles und vor allem sich selbst.

„1000 serpentinen angst“ erscheint bei S. Fischer.
„1000 serpentinen angst“ erscheint bei S. Fischer.

© promo

Vieles davon basiert auf Olivia Wenzels eigenem Leben. „Früher wollte ich Geschichten schreiben, die möglichst weit weg von mir sind, damit ich zeigen kann, wie gut ich mir Fiktion ausdenken kann. Das hat aber häufig einfach nicht funktioniert. Um solche Themen wie Tod oder Rassismus komme ich nicht drumrum, da werde ich mich noch viele Jahre von freischreiben müssen, schätze ich.“

Es ist ihr auch ein Anliegen, dass ihr Roman als Autofiktion, an der Grenze zwischen autobiografischem und fiktivem Schreiben, wahrgenommen wird, ohne, dass ihm der Wahrheitsgehalt von rechter Gewalt abgesprochen wird. „Dass Leute sagen: Aber diese Übergriffe gab es doch gar nicht, das hat sie sich ausgedacht. Selbst wenn ich sie mir ausgedacht hätte, wären sie in Deutschland ziemlich wahrscheinlich.“

Lebenswille, aber nicht glücklich

Anders als ihre Protagonistin, die nicht eine Sekunde zur Ruhe kommt, wirkt sie nicht gehetzt. „Sie ist wie eine düstere Variante meiner selbst. Ständig analysiert sie Machtasymmetrien und Unterdrückung.“ Die Figur hat Lebenswillen, aber glücklich ist sie nicht. Wenzel hingegen: „Ich kann mein Leben annehmen, bin dankbar für meine Freunde, dass ich von meiner Arbeit leben kann und auch für meinen deutschen Pass, der es mir ermöglicht, frei zu reisen.“

Während sie erzählt, rückt sie mit dem Stuhl etwas nach hinten, knackt immer wieder mit ihren Fingern, stellt Rückfragen. „Es ist etwas unangenehm, nur so zu monologisieren“, sagt sie mit ihrer leicht rauen Stimme.

Als singuläre Erscheinung möchte Olivia Wenzel nicht wahrgenommen werden, als diejenige, die das Leben schwarzer Menschen in einer weißen Mehrheitsgesellschaft als Erste anspricht. „Dass jemand wie ich, mit meiner Geschichte, einen gesellschaftlichen Nerv treffen kann, hat einerseits mit der Arbeit vieler schwarzer Autorinnen und Aktivistinnen aus Amerika zu tun.

Sie haben ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass es an der Zeit ist, andere Erzählungen zu hören und zu publizieren. Und andererseits mit der beschissenen politischen Gegenwart, in der wir uns befinden.“

Besonders divers ist der deutschsprachige Literaturbetrieb in der Tat nicht: Autorinnen wie Jackie Thomae oder Sharon Dodua Otoo sind noch Ausnahmen. Beim Fischer-Verlag fühlt sich Olivia Wenzel trotzdem aufgehoben, sagt sie. Mit den Leuten dort arbeitet Wenzel auch zusammen, um gegen rassistische Anfeindungen gegen sie vorzugehen.

Mit Veranstaltern ihrer Lesungen bespricht sie vorab, wie sie vor Ort geschützt werden kann. Denn sich zu Hause verkriechen, zwischen den ordentlichen Vorgärten und den Zwergenfiguren, das kommt nicht infrage.

Veranstaltungen in ganz Deutschland

„Ich bin stolz, den Roman fertig geschrieben zu haben und freue mich sehr auf dieses Jahr, in dem ich viel unterwegs sein werde.“ Veranstaltungen in ganz Deutschland liegen vor ihr. Wenn es etwas ruhiger wird, will sie sich wieder dem Theater und der Musik widmen und weitere Workshops für Kinder und Jugendliche geben, wie zuletzt im Haus der Berliner Festspiele zum Thema „Dekoloniales Hören“.

Die Verhältnisse ändern, das schwingt in ihrer Arbeit immer mit. Genug Stoff für weitere Romane wird es sicher geben.

Olivia Wenzel liest aus „1000 serpentinen angst“ am 19. März um 19 Uhr im Museum in der Kulturbrauerei.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false