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Gregor S. hat am zweiten Prozesstag gestanden.

© dpa

„Das Anliegen war mein Lebensinhalt“: Die diffuse Gedankenwelt des Weizsäcker-Mörders

Er sei nicht geisteskrank, doch seine Tat ist kaum nachzuvollziehen. Der Mann, der Fritz von Weizsäcker erstach, hat gestanden. Eindrücke aus dem Gericht.

Es war muss Anfang November 2019 gewesen sein, als Gregor S. auf sein Leben blickte und befand, dass seine Situation aussichtslos sei: Im ewigen Streit mit seinem Hausverwalter hatte er dessen Auto zerkratzt, nun sollten sein Konto und Gehalt gepfändet werden, er fühlte sich bloßgestellt. „Ein Alptraum“, sagt Gregor S. im Moabiter Kriminalgericht. Deshalb sei er nach Berlin gefahren, um dem ihm persönlich unbekannten Mediziner Fritz von Weizsäcker zu töten.

Was das eine mit dem anderen zu tun hat? Nichts. Aber in der Welt, in der Gregor S. seit Jahren lebt, offenbar alles. „Das hat mir die Tat erst ermöglicht.“
Es ist kurz nach halb zehn, als sich der des Mordes angeklagte Lagerist aus Andernach am Dienstag zwischen seine zwei Verteidiger setzt, um eine Erklärung zu verlesen und anschließend Fragen zu beantworten. Ein schmaler Mann, 57 Jahre alt, blass. 90 Minuten lang wird er über sein Leben sprechen, seinen Hass auf die Familie Weizsäcker, das Attentat. 90 Minuten – und keine einzige davon wird erklären können, warum Fritz von Weizsäcker, Chefarzt und Vater von vier Kindern, an jenem 19. November nach einem Vortrag in der Schlosspark-Klinik sterben musste.

Der Angeklagte will den Eindruck verhindern, er sei geisteskrank

Seine Stellungnahme, das betont Gregor S. gleich zu Beginn, soll allen im Saal 700 beweisen, den Richtern, der Anklägerin, den Nebenklägern, den Journalisten und den Zuschauern, dass er nicht geisteskrank sei. Denn diese Diagnose komme „einer Vernichtung gleich“. Seine handgeschriebenen Worte liest Gregor S. von zwei DIN-A-4-Bögen ab, mit ruhiger, fast monotoner Stimme sagt er Sätze wie:
„Ich habe das Pech, dass ich ein Einzeltäter bin und keine Lobby habe.“
„Ich bin Zwangsneurotiker, ich ekele mich vor allem.“
„Ich bin froh, dass er tot ist.“

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Gregor S. scheint von einer Art Bekenntnisdrang getrieben. Als Angeklagter erzählt er noch einmal, was er schon Polizisten, Haftrichtern und Psychiatern gestanden hat: Wie er sich vor dem Anschlag in Koblenz ein Klappmesser für 19,50 Euro kaufte und, weil er selbst nicht glaubte, dass er das Ding dieses Mal durchziehen würde, sich für ein Hin- und Rückfahrticket entschied.

In Berlin angekommen, zerstörte er dem Weg zur Klinik sein Handy und sein Tablet, weil er nicht wollte, dass der Polizei die Fotos von seinen Thailand-Urlauben in die Hände fallen. Es war 19 Uhr, als Fritz von Weizsäcker seinen Vortrag über die Fettleber gerade beendet hatte und alle, die noch Fragen haben, zu ihm nach vorne bat. Gregor S. zog an der Reihe Wartender vorbei, zog sein aufgeklapptes Messer und stach dem Professor unvermittelt in den Hals. Weizsäcker, 59 Jahre alt, rief noch „Was fällt Ihnen ein?“, bevor er zusammenbrach.

Schon der erste Stich ist tödlich

Dass schon dieser eine Stich tödlich war, ahnten weder Gregor S. noch Ferrid B., ein Polizist, der privat beim Vortrag war und nun neben dem Chefarzt stand. Der 33-Jährige fasste in die Klinge, gab auch nicht auf, als Gregor S. auf ihn einstach. Schwer verletzt gelang es dem Polizisten, der sich im Dienst um Betrug und Cybercrime kümmerte, S. zu überwältigen. Es besteht kein Zweifel: Gregor S. wusste, was er tut. Die Frage ist: Konnte er anders? Oder hat ihn sein Wahn getrieben? Bis zum 30. Juni will das Gericht klären, ob Gregor S. vermindert schuldfähig oder gar schuldunfähig war.

Trauer um den Mediziner Fritz von Weizsäcker. Auch die Gesundheitssenatorin kondolierte.
Trauer um den Mediziner Fritz von Weizsäcker. Auch die Gesundheitssenatorin kondolierte.

© Paul Zinken/dpa

Es gibt Hinweise, dass die Wurzeln seiner Krankheit in der frühen Jugend liegen. Gregor S. sagt, dass sein Hass vor mehr als 30 Jahren entfacht wurde, als er einen Artikel las über die Geschäftsführertätigkeit von Richard von Weizsäcker bei dem Chemiekonzern Boehringer Ingelheim. Der frühere Regierende Bürgermeister von Berlin und spätere Bundespräsident Richard von Weizsäcker sei durch die Unterstützung des US-amerikanischen Konzerns Dow Chemical bei der Produktion des hochgiftigen Entlaubungsmittels Agent Orange für den Vietnamkrieg mitschuldig am Tod von Millionen Vietnamesen. Gregor S. sagt: Dieser Artikel habe ihn traumatisiert.

Es hätte auch die Schwester treffen können

Als Richard von Weizsäcker starb, habe er dessen Kinder ins Visier genommen. „Das Anliegen war mein Lebensinhalt, alles andere war unwichtig.“ Nach seiner Schilderung hätte es auch die Schwester, Beatrice von Weizsäcker, treffen können, die Gregor S. jetzt als Nebenklägerin gegenübersitzt. Aber dann habe er im Internet von dem Vortrag gelesen und sich für den Arzt entschieden.

Der Richter hakt nach: Was war der Sinn? Was wussten Sie über den Sohn? Sein Verhältnis zum Vater? Der Angeklagte sagt: „Wenn man traumatisiert ist, geht man nicht mehr so ins Detail.“ Es sind Sätze, die Ferrid B. noch einmal wie Stiche zu treffen scheinen. Er lehnt sich zurück auf der Bank der Nebenkläger, schaut an die Decke, atmet durch. Seine Wunden sind bis heute nicht verheilt, die Hände weiterhin stark geschädigt, selbst das Schuhebinden bereitet Schmerzen. Bis heute konnte Ferrid B. nicht in den Dienst zurückkehren.

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