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Berlin: Charlotte Franck (Geb. 1909)

Sie jedoch verließ Berlin erneut - nach Istanbul

Sieben Kinder waren sie in Berlin. Und hatten oft Hunger. In Pommern, bei der Tante wurde man satt. Charlotte Franck mochte ihre Tante Tine außerordentlich und verließ als Kind Berlin, die enge Wohnung, die Armut, lebte von nun an in der Nähe von Stettin, auf dem weiten Land.

Zu Beginn der Ferien kamen die Geschwister, am Bahnhof wartete der Pferdewagen, obenauf Charlotte empfing mit rosigen Wangen und winkend die schmalen Stadtkinder. Am Ende der Ferien fuhr der Pferdewagen zurück zum Bahnhof, keiner der Reisenden auf ihm war mehr fahl und dünn.

Dann nahm Charlotte den Wagen zum Bahnhof ein letztes Mal, der Erste Weltkrieg brach ein auch in ihr Leben, sie musste wieder nach Berlin.

Die jungen Männer durften einen Beruf erlernen, die jungen Frauen sollten heiraten. Die Männer aber waren nicht mehr da, sie kämpften jetzt irgendwo. Also ersetzten die Frauen die Männer. Charlotte arbeitete zunächst als Näherin, dann als Nachrichtensprecherin bei „Transocean“, einer Nachrichtenagentur, die das Ausland mit Meldungen aus Deutschland versorgen sollte. Die Männer kehrten heim, zumindest einige, verbannten die Frauen zurück in die Küchen und zu den Kindern. Charlotte jedoch verließ Berlin erneut – nach Istanbul. Mustafa Kemal Atatürk reformierte damals die Türkei, und holte zu diesem Zweck Intellektuelle ins Land. Eine Ärztin und ein Altphilologe folgten dem Ruf und ließen sich für die Betreuung ihrer beiden Kinder von Charlotte begleiten.

1939 kehrte sie zurück und sprach nun Türkisch. Die Türken, die Anfang der sechziger Jahre in die Bundesrepublik kamen, konnten sich anfangs kaum verständigen. Sie staunten, wenn sie im Supermarkt vor einem Regal, in dem sie ratlos nach Mehl suchten, von einer deutschen Dame in gutem Türkisch gefragt wurden, ob sie Hilfe brauchten. Als Charlotte später im Krankenhaus lag, unterhielt sie sich ohne Mühe mit den türkischen Pflegern und Putzfrauen in deren Sprache.

Nach ihrer Rückkehr aus Istanbul lernte Charlotte ihren Mann kennen, den Müller Rudolf Franck, mit dem sie nach Dahlem zog und später nach Lichterfelde. Denn hier gab es einen Garten, hier entspannten und erholten sie sich, Charlotte von der Arbeit als Angestellte im Gesundheitsamt, wo sie sich weit über das verlangte Pensum für Hilfsbedürftige einsetzte. Als sich die wirtschaftlichen Verhältnisse besserten, begannen Charlotte und ihr Mann gemeinsam zu verreisen, in den Schwarzwald, ins Salzburger Land. Und auch nach Pommern, wo Charlotte vergeblich nach dem Kindheitshaus, der Scheune und dem Garten suchte.

1980 starb ihr Mann. Betty, die Schwester war bei ihr. Und die Nachbarn im neuen Haus in Wilmersdorf halfen, als Charlottes körperliche Kräfte nachließen, im Gegensatz zu ihren geistigen, die nicht einen Augenblick schwanden. Wenn ihre Nichte anrief, was sie täglich tat, aber niemand abhob, bat sie die Nachbarin nachzuschauen, und die Nachbarin, schon im Schlafrock, lief in Charlottes Wohnung: „Alles in Ordnung, sie schläft.“

Schließlich ging sie doch fort aus ihrer Wohnung, in ein Pflegeheim. Zu ihrem hundertsten Geburtstag, am 30. August 2009, kamen alle Nachbarn. Am 23. Mai 2011 ist Charlotte Franck gestorben. Tatjana Wulfert

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