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Berlin: Carl-Heinz Evers (Geb. 1922)

Auf einem Schulfasching verkleidet sich der Senator als Che Guevara

Es ist das Protestjahr 1968, Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Schütz hetzt gegen Langhaarige: „Ihr müsst ihnen genau ins Gesicht sehen. Dann wisst ihr, denen geht es nur darum, unsere freiheitliche Grundordnung zu zerstören.“ Carl-Heinz Evers ist aufgebracht: Werden jetzt also Langhaarige verfolgt? Sein elfjähriger Sohn, den die Wut des Vaters beeindruckt, lässt sich die Haare lang wachsen. Sein Vater, der Schulsenator, lässt ihn gewähren.

„Nackt wurde ich geboren, nicht als Demokrat oder Sozialist“, so eröffnet „Kalle“ Evers seine Autobiografie. Seine Eltern kaufen unter Hitler nicht mehr „beim Juden“, der Vater tritt der NSDAP bei, um nicht aufzufallen. „Nacherziehung“ in Sachen Demokratie und Sozialismus wird Kalle in einer befreundeten christlichen Familie zuteil, die er bei Fronturlauben regelmäßig besucht. Er tritt auch einer Christengemeinschaft bei. Gemeinsam beten sie für ein Ende des Krieges.

Seine spätere Frau Mechthild lernt Kalle per Brief kennen: In der Schule tauschen die Mädchen Feldpostnummern aus. Es gilt als schick, viele davon zu besitzen und die Soldaten an der Front mit Briefen aufzumuntern. Kalle schreibt ihr zurück. Bei einem kurzen Fronturlaub lernen sie sich kennen und heiraten noch während des Krieges.

Später, als Student in Halle, will Kalle gegen neues Unrecht nicht mehr nur anbeten. In Referaten zweifelt er die Ideologie an – und wird angefeindet als „Söldling des amerikanischen Imperialismus“. Er soll die Uni verlassen. Sein Studium setzt er in West-Berlin fort und wird Lehrer für Mathematik, Physik und Philosophie an einem Tempelhofer Gymnasium. Und er tritt der SPD bei.

Lehrer sollen das Wissen nicht diktieren, findet er. Sie sollen die Schüler zu eigenen Erkenntnissen führen. Um seine Ideen zur Schulbildung durchzusetzen, wechselt er in die Politik, wird Bezirks-, dann Landesschulrat und 1963 Schulsenator, ernannt von Willy Brandt.

In diesem Amt pflegt er einen ungewöhnlichen Umgang mit der Öffentlichkeit. Er ist viel in Schulen unterwegs, wo er mit Lehrern, Eltern und Schülern diskutiert. Er nimmt, als Che Guevara verkleidet, an einer Schulfaschingsfeier teil. Er äußert Verständnis für die Studentenproteste, an denen sich auch die beiden Töchter beteiligen. Die eine als Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins, die andere mit ihrer maoistischen Studentengruppe. Das bringt ihm Häme ein: „Der hat ja nicht mal seine eigenen Kinder im Griff!“

Sein wichtigstes Projekt ist die Einführung der Gesamtschule; alle Schüler, unabhängig von ihrer Herkunft, sollen hier zum Abitur gelangen. Die Gegner sprechen von „sozialistischen Schulexperimenten“. Kinder würden als „Versuchskaninchen“ missbraucht.

Mit den Seilschaften seiner eigenen Partei gerät er in Konflikt, weil er niemanden protegiert, nur weil er Sozialdemokrat ist.

Sein Sohn, in der Schule gefragt, ob er den Senator Evers kenne, antwortet: „Ein bisschen.“ Denn Kalle arbeitet viel, 16, manchmal 18 Stunden am Tag. Später beschreibt er, wie ihn das verändert hat: „Die Haut wird dünner, die Ironie bissiger, die Witze werden fader, und die Selbstironie versickert.“

Als ihm der Senat 1970 das Geld für die Gesamtschulreform verweigert, tritt er zurück. Wie kann eine SPD-Regierung die Bildungsreform nicht finanzieren, derer sie sich zuvor noch vollmundig gerühmt hat?

Endlich hat er mehr Zeit für die Familie. Doch zieht er sich, so lange es seine Kräfte erlauben, nicht ganz zurück. Zehn Jahre lang lehrt er Pädagogik an der Technischen Universität. Und engagiert sich weiter politisch, jetzt vor allem für Frieden und Menschenrechte, auch als Demonstrant auf der Straße.

Seine Herzmuskelschwäche, eine Folge der Kriegsgefangenschaft, macht ihm zunehmend Probleme. Die SPD verlässt er, weil er nicht mehr genug Kraft hat, gegen ihre Asylpolitik anzugehen. Sein Austrittsschreiben schließt er mit den Worten: „Ich bleibe Demokrat und Sozialist.“ Candida Splett

Candida Splett

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