zum Hauptinhalt
Der Verleger Thomas Jonglez an seiner Entdeckung, der "schiefen Kirche von Stralau".

© Sven Darmer

Buch „Verborgenes Berlin“: Kennen Sie diese geheimen Sehenswürdigkeiten?

Orte in der Stadt, die selbst echte Berliner nicht kennen? Ein französischer Verleger und drei Hinzugezogene präsentieren über 200 "verborgene Sehenswürdigkeiten".

Thomas Jonglez zeigt stolz auf sie wie auf einen Goldschatz, etwas entfernt hält er seine Hand in die Luft. Auf dem Fotos sieht es aus, als würde er den geneigten Kirchturm abstützen – so machen es Touristen beim Besuch des schiefen Turms von Pisa. Doch das hier ist nicht Pisa. Mitten in Berlin steht die „schiefe Kirche von Stralau“.

Während es der Turm zur weltbekannten Sehenswürdigkeit geschafft hat, reisen nur selten bis nie Besucherinnen und Besucher auf die Halbinsel Stralau am Rummelsburger See in Friedrichshain, um sich das mittelalterliche Gebäude aus dem 15. Jahrhundert samt neogotischem Turm anzusehen. 

Dabei ist dieser um 1,1 Grad stärker geneigt als der in Italien – nämlich 5 Grad nach Nordwesten, während der schiefe Turm von Pisa lediglich 3,9 Grad nach Süden neigt. Auf den ersten Blick erkennt man die Stralauer Neigung nicht.

Jonglez ist Franzose und lebt seit September 2019 am Paul-Lincke-Ufer in Kreuzberg. Sein Verlag hat über 60 Reiseführer herausgegeben, elf davon auf Deutsch: „Verborgenes Venedig“, „Verborgenes Genf“. Nun also „Verborgenes Berlin“, erschienen im November 2020. 

300 Orte mit dem Fahrrad abgefahren

Das Buch zeigt 200 „geheime Sehenswürdigkeiten der Stadt“, samt Fotos und Hintergründen. Jonglez‘ drei Autoren hatten über 300 Orte zusammengesucht, dann wurde aussortiert, was nicht ins Profil passte: Relativ unbekannt soll es sein, sogar für eingeborene Berliner, erzählt Jonglez, während er über den Friedhof neben der Stralauer Kirche spaziert. Er habe sich die 300 Orte alle selbst angeschaut innerhalb von drei Monaten, sei mit den Fahrrad hingefahren und habe dann entschieden.

„Alles was bekannt ist für Berliner, darüber wollen wir nicht sprechen im Buch“, erzählt der 50-Jährige. Zum Beispiel die Unterführungen der markanten Karl-Marx-Allee, die seien zu berühmt, zu offensichtlich. 

"Görings Säulen" an der Karl-Marx-Allee

Eine Stelle der Straße hat es aber ins Buch geschafft: „Görings Säulen“, Marchlewskistraße 25. Im bekannten Zuckerbäckerstil der Stalinallee sind die schwarzen Rundsäulen aus poliertem Dolerit aus Hermann Görings Landsitz in Carinhall eingebaut worden. Das wissen mitunter nicht mal Leute, die in dem Haus wohnen.

Punks, die ihren Müll trennen

Drei Autoren haben die Orte gesucht: Der Schriftsteller Tom Wolf, bekannt durch seine „Preußenkrimis“, der Stadtsoziologe Roberto Sassi und der Philosoph Manuel Roy. Letzterer kam 2000 nach Berlin und sagt, sein Bild von Deutschland sei in Berlin vollständig auf den Kopf gestellt worden, als er in postapokalyptischen Gegenden auf Punks traf, die gewissenhaft ihren Müll trennten. 

Alle drei sind keine gebürtigen Berliner und sollen ebendiesen Orte zeigen, die sie noch nicht kennen? Jonglez lacht. Ja, er wisse um die Herausforderung und dass die Berliner selbst ihre Stadt wohl am besten kennen. Aber er glaubt auch, dass Hinzukommende einen anderen Blick haben und Dinge sehen, die Einheimischen mitunter nicht mehr auffallen. Oder sie gehen an Sehenswürdigkeiten, interessanten Orten vorbei, ohne sie als solche wahrzunehmen.

[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

So könnte es also sein, dass bald, wenn Reisen nach der Corona-Pandemie wieder uneingeschränkt möglich sind, Touristen zu einer S-Bahnbrücke in Charlottenburg fahren, um sich die dortigen Durchschusslöcher im Brückenpfeiler ansehen, Leibnizstraße 68, Savignyplatz. 

Die rund zehn Zentimeter dicken Löcher schafften es ins Buch, da sie nicht auf den ersten Blick auffallen. Sie stammen aus der zweiten Aprilhälfte 1945: Volkssturm, die Schlacht um das für die Deutschen längst verlorene Berlin. „Die Einschüsse im Metall und im Mauerwerk unter der Brücke waren eine Begleiterscheinung der Flucht von deutschen Truppen vor den Alliierten“, heißt es im Buch.

Einschusslöcher im Brückenpfeiler in Charlottenburg.
Einschusslöcher im Brückenpfeiler in Charlottenburg.

© Tom Wolf

Nach dem Krieg hatte jemand neben einen Durchschuss geschrieben: „Vergesst es nie!“ Gemeint war die Grausamkeit der Kämpfe. Beim Neuanstrich der Brücke wurde dieser Schriftzug leider übermalt.

Eine Mischung aus historischen Hinterlassenschaften, Statuen, alternativen Sehenswürdigkeiten und kaum sichtbaren Feinheiten in der Stadtarchitektur bietet „Verborgenes Berlin“. Auch Details in Museen gehören dazu. Alle Orte sind zwar „verborgen“, also nicht sofort ersichtlich, aber frei zugänglich. Keine Privatsammlungen und kein Zäune-Klettern, keine "Lost Places"

Mäusebunker? "Kenn ick!"

Sicherlich wird der ein oder andere bei beispielsweise dem "Mäusebunker" der Freien Universität Berlin, der Kaninchen-Silhouette auf der Chausseestraße, den Schnapsflaschenfenstern der Zwölf-Apostel-Kirche am Nollendorfplatz oder der historische Fontane-Apotheke am Mariannenplatz sagen: "Kenn ick!"

Die historische Fontane-Apotheke am Mariannenplatz.
Die historische Fontane-Apotheke am Mariannenplatz.

© Thomas Jonglez

Allerdings kann es interessant sein, diese Orte neu zu entdecken, die Geschichten dazu zu erfahren. Jonglez betont, man habe nicht nur den Innenstadtring zu untersuchen, sondern vor allem die "Randbezirke". Spandau, Marzahn-Hellersdorf, Lichtenberg. Und dort, so ist sich Jonglez sicher, kann so mancher eingefleischte Kreuzberger noch was Neues entdecken. 

[Über 230.000 Abos und noch viel mehr Leserinnen und Leser: Die 12 Tagesspiegel-Newsletter gibt es Bezirk für Bezirk hier leute.tagesspiegel.de]

Er selbst finde in Kreuzberg nahezu wöchentlich neue, erwähnenswerte Stellen, wenn er herumlaufe und nach diesen Ausschau halte. Früher war der Verleger in der Stahlindustrie tätig und bereiste die Welt von Pakistan bis Pjöngjang. 

In Kreuzberg allerdings könnte er sich vorstellen zu bleiben, mit Frau und drei Kindern. Eine zweite Auflage des Buches ist bereits in Planung. „Es gibt immer verborgene Orte und es entstehen neue, man muss sie nur entdecken“, sagt Jonglez.

"Es ist so schön ruhig hier in Kreuzberg."

Nachdem er sieben Jahre in Rio de Janeiro gelebt hatte, wollte Jonglez zurück nach Europa. „Und Berlin ist da die interessanteste Stadt. Es gibt alles, vom alternativen Leben bis zu klassischer Musik.“ Zudem sei die Stadt so schön grün und vor allem Kreuzberg sehr entspannt, besonders im Vergleich zu Paris oder London. „Es ist so ruhig hier, teilweise sind kaum Autos auf der Straße, schon vor der Pandemie.“

Die Kirche von Stralau übrigens hat ihren Schiefstand dem Zweiten Weltkrieg zu verdanken. Im Rahmen des Wiederaufbaus Ende der 1950er-Jahre soll der entstandene Bombenkrater unzureichend aufgefüllt worden sein, wodurch sich das Gelände später absenkte und der Turm sich neigte. 

"Verborgenes Berlin". Jonglez Verlag. 464 Seiten.19,50 Euro. (ISBN: 9782361953713) 

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false