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"Wahrzeichen" des Kottis ist das Neue Kreuzberger Zentrum (NKZ), das von 1969 bis 1974 an der Nordseite des Platzes gebaut wurde und die Adalbertstraße überspannt.

© Carmen Schucker

"Mein erstes Kreuzberg-Erlebnis" (3): Wie der Kotti den Kulturschock heilte

Nach einem längeren Aufenthalt in Laos trampt unsere Autorin von Indien über den Landweg bis nach Berlin. Dort angekommen, erleidet sie einen Kulturschock. Doch dann landet sie in Kreuzberg.

Als ich zum ersten Mal in Kreuzberg war, war ich völlig durcheinander. Ich kam gerade von einer langen Reise zurück nach Deutschland, hatte eine Art umgekehrten Kulturschock und wunderte mich über vieles. Aber was soll man auch denken, wenn Leute schnell weggucken, wenn man sie auf der Straße freundlich anlächelt? Oder wenn plötzlich jeder ein Auto hat und alle beim Abbiegen blinken, auch wenn niemand sonst auf der Straße ist? Für mich war das alles dieser Tage reichlich obskur. Doch dann kam Kreuzberg und hat mich, man kann das so sagen, gerettet. Aber eins nach dem anderen.

Nach dem Abitur hatte ich ein Jahr lang in Laos gearbeitet. Danach war ich von Indien über den Landweg bis nach Berlin getrampt, mit einem winzigen Rucksack auf dem Rücken und ziemlich wenig Geld in der Tasche. Ich hatte mit vielen furchtbar netten Menschen literweise Chai auf flauschigen Teppichen getrunken, war in warmen Ramadan-Nächten durch Islamabad geschlendert und auf den Ladeflächen klappriger Pickups über die Hügel Kurdistans gebrettert. Und ich hätte heulen können, dass das alles mit meiner Ankunft in Berlin zu Ende sein sollte.

In Kreuzberg würde man mit Steinen beworfen, wenn man mit Papis Mercedes da durchfahre

Zu allem Übel war ich jetzt in einer Stadt gelandet, die ich nur von einem gähnend langweiligen Silvester-Urlaub mit noch langweiligeren Schulfreunden aus meiner Heimatstadt im Rheinland kannte: Brandenburger Tor, KaDeWe... an viel mehr konnte ich mich nicht erinnern. Nach Kreuzberg waren wir gar nicht erst gefahren. Da würde man mit Steinen beworfen, wenn man mit Papis Mercedes durchfahre, hatten die Freunde allen Ernstes behauptet.

Aber jetzt fuhr ich ohne Ticket zum Kottbusser Tor, und ich musste lachen, als ich an die Steine dachte. Doch sofort böse Blicke – man lacht nicht grundlos in der Bahn! Niemand redete. Wo war ich hier gelandet? Ich wollte zurück ins Straßengewirr Kalkuttas, um mich dort bei Stromausfall zu verlaufen. Ich wollte wieder mit türkischen Truck-Fahrern trampen, die Nüsse für Nutella ausliefern, und mit ihnen stundenlang tiefgründige Konversationen mithilfe von fünf türkischen Vokabeln führen. Nie wieder persische Gastfreundschaft, dachte ich, nie wieder belangloser Smalltalk mit Fremden auf der Straße.

Am Kotti roch es nach persischem Nan-Brot

Aber auf dem Kottbusser Damm roch es plötzlich nach frisch gebackenem persischen Nan-Brot. Ein Passant lächelte mich an. Der Späti-Verkäufer fing an, mit mir zu smalltalken und ein Auto bog ab, ohne zu blinken. Was war hier los? Noch etwas skeptisch spazierte ich das Maybachufer entlang, wo die Markt-Händler gerade ihre vom Tag übrig gebliebenen Schlangengurken zusammen klaubten und junge Menschen bei Straßenmusik und später Sonne auf dem Boden Börek mampften und Kaffee tranken.

Das, musste ich zugeben, war alles gar nicht so übel. In der Zeit, in der ich auf dem Kottbusser Damm bei einer Freundin auf der Couch schlief, strich ich dann jeden Dienstag und Freitag über den türkischen Markt, feilschte um Mango-Kisten („Kaufe Mango, tanze Tango!“) und führte wieder tiefgründige Konversationen auf nicht vorhandenem Türkisch. Ich war angekommen, aber weiter unterwegs. Und nach ein paar Tagen begriff ich auch, dass die Reise eben nicht vorbei war, sondern ganz im Gegenteil, dass es immer weiter geht in dieser Stadt, besonders in Kreuzberg, wo sich noch immer alles bewegt und sich alles mischt.

Über drei Jahre ist das jetzt her. Ich musste dann zwar nach Charlottenburg ziehen. Aber seitdem fahre ich oft nach Kreuzberg, wenn mich die Sehnsucht nach lächelnden Menschen oder nach frischem persischem Nan-Brot packt. Und auch wenn die Gegend um den Kottbusser Damm immer schicker wird - so erinnert sie mich jedes Mal daran, dass man oft nicht viele Kilometer zurücklegen muss, um reisen zu können. Ich bin froh, dass sie meinen Kulturschock geheilt hat.

Der erste Kuss auf dem Kreuzberg, die erste eigene Wohnung oder ein unvergesslicher Kreuzberg-Tag: Die Kreuzberger Kieze sind voller erster Erinnerungen. In unserer Rubrik "Mein erstes Kreuzberg-Erlebnis" zeichnen unsere Autoren ihre persönlichen Erinnerungen für den Kreuzberg Blog auf. Haben Sie auch eine tolle Geschichte zu erzählen? Dann machen Sie mit und schicken Sie uns Ihr erstes Kreuzberg-Erlebnis an kreuzberg@tagesspiegel.de

Dieser Artikel erscheint im Kreuzberg Blog, dem hyperlokalen Online-Magazin des Tagesspiegels.

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