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Stolpersteine für Julius, Martha, Horst und Rolf Robert vor dem Haus Jenaer Straße 11 im Bayerischen Viertel.

© Mike Wolff

Stolpersteine im Bayerischen Viertel: Eine Art verspätete Verwandtschaft anbieten und auf diese Weise gedenken

Anlässlich der Stolpersteinverlegung für Julius, Martha, Horst und Rolf Robert vor dem Haus Jenaer Straße 11 im Bayerischen Viertel hielt Anwohnerin Christine von Arnim diese Ansprache.

Wir verlegen heute, im 20. Jahr der Stolpersteinverlegung, Stolpersteine für Julius, Martha, Horst und Rolf Robert, die in unserem Haus, in der Jenaer Str. 11, gewohnt haben. Wir erinnern an diese Familie, obwohl wir gar nicht von Erinnerung sprechen können. Denn wir kennen niemanden, der sie kannte, mit ihnen verwandt war oder sich an sie erinnert. Es gibt keine feststellbaren Angehörigen, wenig Aktenmaterial, kaum Zeugnisse.

Julius Robert, geboren 1891 in Berlin, wurde mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen am 28. März 1942 ins Ghetto Piaski deportiert. Sie waren nicht die Einzigen: 985 Menschen wurden an diesem Tag zum Gleis 17 am Bahnhof Grunewald gebracht und in Viehwaggons verfrachtet.

Es war ein Tag wie heute: Der Frühling machte sich bemerkbar nach einem langen kalten Winter, man freute sich über die wärmende Sonne und blieb ein Weilchen auf der Straße stehen, um mit den Nachbarn zu plaudern. Das haben Roberts hier nicht mehr erlebt, denn sie hatten die Jenaer Straße schon verlassen müssen, um in der Herderstraße in Charlottenburg ihr letztes schon erzwungenes Quartier vor der Deportation zu beziehen.

Nachbarin Christine von Arnim und Rabbiner Walter Rothschild bei der Stolpersteinverlegung in der Jenaer Straße.

© Mike Wolff

Julius Robert war damals 51 Jahre alt. Sein Beruf wird im Telefonbuch als Polsterer genannt. Er besitzt ein Vermögen von über 21.000 Mark, wird darüber aber nicht mehr frei verfügt haben können, denn nach der „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ vom 12.11.38 hatte allein die Oberfinanzdirektion Zugriff zu seinem Vermögen. Julius Robert wird im Ghetto gleich wieder als Polsterer eingestellt. Rolf, sein Sohn, gerade 16 Jahre alt, wird im Ghetto als Schlosser geführt.

Julius’ Frau Martha, geborene Mannheim, ist 1886, also fünf Jahre vor ihrem Mann, in Soldau in Ostpreußen geboren. Wie die beiden sich begegnet sind, wissen wir nicht.

1925 wurde ihr erster Sohn Rolf in Berlin geboren, da ist sie 39 Jahre alt. 1931 kommt ihr zweiter Sohn Horst in Bad Freienwalde auf die Welt. Martha war da schon 45 Jahre alt und wird diese überraschend späte Geburt besonders dankbar angenommen haben.

Horst ist 11 und Rolf ist 16. Und jetzt sollen sie ihre schöne große Wohnung in der Jenaer Straße verlassen und zu irgendeiner anderen Familie in die Herderstraße ziehen („bei Fluss“ heißt es auf der Transportliste), vermutlich Vater, Mutter und beide Söhne in einem Zimmer. Wie kann man einem 11-Jährigen erklären, dass er nicht mehr in ein öffentliches Schwimmbad, in den Fußballverein, in den Kinderchor darf, dass er keine Haustiere haben darf?

Als sich die Spur der Familie verliert, ist die Wohnung in der Jenaer Straße vermutlich schnell neu belegt. Wer das war und was er dachte, als er den Hausrat der jüdischen Vorbewohner vorfand, hat niemand freiwillig erzählt. Wir können uns das heute überhaupt nicht vorstellen: Eine Familie wird geholt, verschwindet und die im Nachbarhaus und die gegenüber auch. Das kann nicht geräuschlos zugegangen sein in dieser eher kurzen und engen Jenaer Straße, die mit dem heutigen Tag allein 35 Stolpersteine aufweist.

Alle Roberts kommen in das Durchgangs-Ghetto Piaski bei Lublin in Polen. Überlebende und polnische Zeugen berichteten, dass viele Deportierte - von März bis Juni 1942 wurden etwa 5000 Juden in die kleine polnische Stadt deportiert - fest davon überzeugt waren, hier zum Arbeitseinsatz eingeteilt zu werden. Aber nur junge arbeitsfähige Männer wurden offenbar vor der Ankunft von den Transporten separiert und von der SS zur Zwangsarbeit nach Majdanek geschickt. Nach der Ankunft im Transit-Ghetto verloren die meisten Deportierten bald den Kontakt zu Verwandten und Freunden in der Heimat, auch weil es seit Ende Mai 42 verboten war, Briefe nach Hause zu schicken. Von unseren Roberts verschwinden hier die letzten Spuren - bis auf einen besonders traurigen Eintrag:

Rolf Robert ist am 17. August 1942, an seinem 17. Geburtstag, in Majdanek ermordet worden. Wie seine Eltern und sein kleiner 11-jähriger Bruder Horst umkamen, wissen wir nicht. Die Familie Robert aus unserem Haus Jenaer Str. 11 steht für viele jüdische Familien, die von den Nationalsozialisten regelrecht ausgelöscht wurden. Deswegen fühlen wir uns besonders verpflichtet, ihnen eine Art verspätete Verwandtschaft anzubieten und ihrer auf diese Weise zu gedenken.

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