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Kundgebung am Schöneberger Rathaus. Das gemeinsam vorgetragene Deutschland geht nicht als strahlendes Beispiel deutscher Gesangeskunst in die Geschichte ein. Die schiefen Töne werden unablässig von Pfiffen und Buhrufen begleitet. Von links: Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher, Ex-Kanzler und ehemaliger Regierender Bürgermeister von West-Berlin Willy Brandt, der amtierende Regierende Bürgermeister Walter Momper, Bundeskanzler Helmut Kohl (halb verdeckt) und Kanzleramtschef Rudolf Seiters (halb verdeckt).

© dpa

Peinlichkeit und schiefe Töne nach dem Mauerfall: Katzenmusik über dem John-F.-Kennedy-Platz

Es ist der 10. November 1989, Berlin jubelt, Tränen fließen vor Freude – aber auch vor Scham. Kohl frotzelt, Brandt blickt entgeistert

Ganz Berlin schwimmt in Freudentränen, 28 Jahre nach den Tränen ohnmächtiger Trauer. Und dann das! Während Berlin am 10. November 1989 auf den Straßen selig vereint ist, junge Leute auf der Mauer tanzen, die Kinder zur Feier des Tages schulfrei haben und der Regierende Bürgermeister Walter Momper die Deutschen „jetzt das glücklichste Volk der Welt“ nennt, leistet sich die Berliner Politik kleinliches, peinliches Gezänk, auch dies unfassbar.

Übernächtigt fliegt Momper morgens um sieben nach Bonn, seine Antrittsrede als Bundesratspräsident zu halten. Unterdessen kündigt Parlamentspräsident Jürgen Wohlrabe für nachmittags eine Sondersitzung des Abgeordnetenhauses und anschließende Kundgebung auf dem John-F.-Kennedy-Platz an. Seltsam, die CDU organisiert zusätzlich für den Abend eine eigene Kundgebung an der Gedächtniskirche. Aber man weiß ja: Der Senat von SPD und AL (Alternative Liste, Vorläufer der Grünen) ist der CDU ein Gräuel, Momper und sein Amtsvorgänger, der CDU-Landes- und Fraktionschef Eberhard Diepgen, mögen einander überhaupt nicht.

Im Rathaus Schöneberg macht sich gereizte Stimmung breit. Verbissen streiten die Fraktionen erst hinter den Kulissen, dann im Plenarsaal über das Wort Einheit, das für die AL tabu ist. Kanzler Helmut Kohl, der mit dem halben Bundeskabinett erschienen ist, wirkt zunehmend genervt. Willy Brandt ist auch da und blickt entgeistert, als wollte er sagen: Was ist denn hier los! Die Reden werden auf den John-F.-Kennedy-Platz übertragen; gellende Pfiffe aus der wartenden Menge dringen hinauf in den Plenarsaal, als Diepgen redet.

Für Diepgen ist es gleich der „Tag der Einheit“, und er fordert die Öffnung des Brandenburger Tors. Das ärgert Momper. Er ist doch auf die Beruhigung der Lage aus, gerade am Brandenburger Tor, immer noch geht die Angst um, im Osten könnte Blut fließen. Er hält auch nichts von „Wiedervereinigungsgerede vom Westen her“; er weiß, dass die Bürgerrechtler im Stolz auf die Revolution eine andere DDR wollen, aber noch keine Einheit, noch nicht. Doch ist Momper samt seiner SPD einverstanden mit dem von der CDU vorgeschlagenen Satz für die Entschließung, der dem „Brief zur Deutschen Einheit“ des Kanzlers Willy Brandt von 1972 entlehnt ist: „Das Abgeordnetenhaus von Berlin hält fest an dem Ziel, auf einen Zustand des Friedens und der Einheit in Europa hinzuwirken, in dem auch das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit erlangen kann.“

Das lehnt die AL strikt ab. Sogar der SPD-Bundesvorsitzende Jochen Vogel soll auf sie eingeredet haben, vergeblich. So einigt sich die Koalition mühsam auf den verqueren Satz ohne das Wort Einheit, der gegen die CDU angenommen wird: „Das Abgeordnetenhaus von Berlin hält fest an dem Ziel, auf einen Zustand des Friedens und der Einheit in Europa hinzuwirken, in dem auch das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung zu der Gestaltung seines Zusammenlebens gelangen kann, für die es sich in Ausübung seines Selbstbestimmungsrechts entscheidet.“ Mit der verkorksten Festsitzung ist die ohnehin labile Koalition eigentlich am Ende, aber Momper wird sie nicht aufkündigen, die SPD will nicht mit der CDU regieren.

Zehntausende aus West und Ost haben sich am Ort der legendären Freiheitskundgebungen eingefunden. Doch sind wohl viele CDU-Anhänger schon zur Gedächtniskirche unterwegs. Brandt wird stürmisch umjubelt, Helmut Kohl rüde ausgepfiffen, auch das noch! Herzlich undiplomatisch spricht Momper vom „Volk der DDR“ und vom „Tag des Wiedersehens“, nicht der „Wiedervereinigung“. Hinter ihm zischt der erboste Kanzler: „Lenin spricht!“ Auch Kohl, Brandt und Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher reden nicht direkt von Wiedervereinigung, sondern lassen das Ziel behutsam anklingen. Brandt begrüßt die „Landsleute drüben und hüben“ und sieht „die beiden Teile Europas zusammenwachsen“. Kohl sagt: „Es lebe ein freies deutsches Vaterland, es lebe ein freies einiges Europa.“

Während der Brandt-Rede wird Momper ein Zettel gereicht, auf dem neun neue Grenzübergänge vermerkt sind, soeben oben im Rathaus mit dem Ost-Emissär ruckzuck vereinbart, Öffnung sofort. Auf Bitten Mompers verkündet Genscher die Botschaft. Doch egal, wer was sagt, Kohl wird unflätig geschmäht, die anderen werden bejubelt. Am Ende stimmt Wohlrabe die Nationalhymne an, die reinste Katzenmusik tönt über den Platz. Da muss unsereiner heulen, mit einem Auge vor Freude, mit dem anderen vor Scham wegen all der Peinlichkeiten.

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