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Pascale Hugues.

© Thilo Rückeis

Pascale Hugues über ihre Straße im Bayerischen Viertel: „Mich faszinieren die Brüche“

Es ist eine ganz normale Straße in Berlin - aber sie spiegelt die deutsche Geschichte. Pascale Hugues befasst sich in ihrem neuen Buch mit der Geschichte ihrer Nachbarn im Bayerischen Viertel.

Nostalgie? Brr! Fast schüttelt sie sich, wenn das Wort fällt. Nein, nostalgisch gestimmt war Pascale Hugues nicht, als sie beschloss, die Geschichte ihrer Berliner Straße aufzuschreiben. Sie wollte kein sehnsuchtsvolles Bild einer fernen Zeit malen, in der alle Altbauten noch prächtig und unzerstört nebeneinander aufgereiht standen, wollte kein „Heimatbuch“ schreiben, das in eine scheinbar selige Vergangenheit entführt. Ganz im Gegenteil: „Mich haben die Brüche fasziniert“, sagt die langjährige Tagesspiegel-Kolumnistin und Korrespondentin des französischen Magazins „Le Point“. „Man merkt auf den ersten Blick, wie zerstört diese Straße ist, und man fragt sich: Was ist hier passiert?“

Schon als Pascale Hugues in die ganz und gar unglamouröse Straße im Berliner Westen zog, verspürte sie den Impuls darüber zu schreiben. Hier stehen großbürgerliche Altbauten neben schmucklosen Nachkriegskästen, die Straße durchquert einen schmuddeligen kleinen Park und endet an einem Sozialwohnungsblock, der sie von einer Hauptverkehrsstraße trennt. „Eine zerstückelte, zusammengestoppelte Straße, ohne jede gemeinsame Proportion, ohne jede Einheit von Stil oder Epoche“, so beschreibt Hugues sie. Was ist daran interessant? Eben: die Brüche, in denen sich die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts spiegelt.

So fing es an. Ein Festumzug der Bäcker-Innung im Jahr 1911, da war die Straße gerade gebaut. 34 Jahre später lag sie in Trümmern.

© Museen Tempelhof Schöneberg von Berlin

Fünf Jahre lang hat Pascale Hugues für ihr Buch „Ruhige Straße in guter Wohnlage“ (Rowohlt Verlag) recherchiert, hat in Archiven gegraben, mit Nachbarn geredet und ehemalige Nachbarn aufgespürt. Sie ist in die USA gefahren, um etwa mit Jon Ron zu sprechen, der einst als Hans-Hugo Rothkegel in ihrer Straße seine Kindheit verbrachte und vor den Nazis fliehen konnte, sie hat in Israel Miriam Blumenreich getroffen, die in der Nummer 3 zur Welt kam. Sie hat Nachbarn befragt, die nach dem Krieg Trümmer schleppten und in Ruinen lebten, erzählt von 68er-Rebellen und Überraschungsbewohnern –David Bowie! Tangerine Dream! – und endet mit der Gentrifizierung von heute: Frau Soller, ehemals KaDeWe-Verkäuferin und geschätzte Hausnachbarin, muss ausziehen. So viele Schicksale, elegant und auf sehr persönliche Weise beschrieben, erhellend weit über die zufällige Lokalität hinaus.

Der Name der Straße fällt im ganzen Buch nicht, bewusst nicht. „Es ist eine Schablone für jede andere Straße in Berlin, in jeder deutschen Großstadt“, sagt Pascale Hugues. Ein bisschen Angst hatte sie davor, auf diese Weise die deutsche Geschichte zu erzählen. „Es ist ja nicht meine Geschichte. Viele Berliner haben das erlebt, worüber ich schreibe, ich nicht.“ Aber gerade der Blick von außen, den sie als Französin wirft, hat Vorteile. „Ich bin eine Art schräger Vogel und kann freier fragen – besonders die ehemaligen jüdischen Nachbarn. Eine deutsche Autorin wäre da vielleicht befangener und schüchterner.“

Wenn sie heute durch ihre Straße geht, fällt ihr zu jedem Haus eine Geschichte ein. „Ich kann nicht mehr unschuldig herumlaufen“, sagt sie. „Die Straße ist für mich voller Schatten, Gespenster, Phantome.“

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