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Bei den Klezmer Sessions des Shtetl Berlin singen und musizieren jiddische Musiker:innen miteinander.

© Alper Eisenstein/Shtetl Berlin

Shtetl Berlin feiert jiddische Kultur in Neukölln: „In Berlin kann man alles gleichzeitig sein“

Jüdische Traditionen sind ein wichtiger Bestandteil der europäischen Kulturgeschichte, sagt Sängerin Sasha Lurje. Mit anderen jiddischen Künstlern will sie vor allem die Musikkultur feiern.

Ein Shtetl ist das Symbol jiddischen Lebens vor dem Zweiten Weltkrieg. In den osteuropäischen Siedlungen lebten überwiegend jüdische Menschen nach ihrer jahrhundertealten Kultur. Zumindest einen kleinen Teil dieser Tradition wollen Künstler:innen auch in Neukölln bewahren und zeigen: Das Judentum ist keine exotische Religion, sondern wesentlicher Bestandteil der europäischen Geschichte.

2016 gründete eine Gruppe Musiker:innen das Shtetl Neukölln als Treffpunkt und Versammlungsort verschiedener jiddischer Kulturen. Hervorgegangen ist das Shtetl aus den Neukölln Klezmer Sessions, einer Veranstaltungsreihe mit Jamsessions jüdischer Musik.

Eine der Mitgründerinnen ist die Sängerin Sasha Lurje. Sie singe, seit sie drei Jahre alt ist, erzählt Lurje bei einem Treffen im Café. „Das war quasi der Anfang meiner Gesangskarriere“, sagt sie und lacht. Ab dem Zeitpunkt sei das Singen und die Musik immer ein wesentlicher Bestandteil ihres Lebens gewesen. Mit der jiddischen Musik kam die gebürtige Lettin dann aber eher zufällig als Jugendliche in Riga in Berührung:

Sie habe damals gemeinsam mit einem weiteren jüdischen Mädchen im Kirchenchor gesungen, erzählt sie. Deren Mutter habe Sasha Lurje dann mit in die jüdische Gemeinde genommen, wo sie die jüdische Kultur kennengelernt habe.

„Ich habe zwar einen jüdischen Hintergrund, bin aber damit nicht so aufgewachsen“, erzählt sie und streicht sich die langen, rotbraunen Haare aus dem Gesicht. Ihr Großvater habe zwar jiddisch als Muttersprache gesprochen, die aber nicht an seine Kinder weitergegeben. „Seit seinem Tod bin ich die Einzige in der Familie, die jiddisch spricht“, sagt Sasha Lurje.

Über verschiedene Festivals habe sie dann die jiddische Musik kennengelernt und festgestellt, dass die in ihr etwas bewegt. Mittlerweile widmet sie sich der Musik professionell. Alles andere habe für sie einfach nicht funktioniert. „Ich habe lange versucht, ein normaler Mensch zu sein und keine Künstlerin“, erzählt sie mit einem Schmunzeln.

Über die Jahre verbrachte sie viel Zeit in Berlin und beschloss irgendwann, vor etwa zehn Jahren, einfach ganz her zu ziehen. In ihrer Nord-Neuköllner Nachbarschaft traf sie dann auf viele andere jiddische Musiker:innen. „Lettland ist sehr schön, aber es ist auch nicht so einfach für Künstler – vor allem, wenn man keine Mainstream-Musik macht“, sagt sie.

Einer der Gründe, die mich in Berlin angezogen haben, ist dass ich hier einfach alles gleichzeitig sein kann.

Sasha Lurje, jiddische Sängerin

In Berlin sei sie auf eine große Community getroffen. „Berlin hat sich sehr verändert, das ist nicht mehr die Stadt, in die ich mich zuerst verliebt habe“, sagt Sasha Lurje. „Aber es ist immer noch eine gute Stadt, um zurückzukommen.“ Mit den jiddischen Künstler:innen aus dem Kiez gründete sie dann vor etwa neun Jahren die Neukölln Klezmer Sessions. „Es gab damals keine Chance, einfach zusammen zu kommen und zu spielen“, erzählt sie.

Ursprünglich seien die Klezmer Sessions einfach als Community-Event gedacht gewesen, einfach für ihre Gruppe, zu der damals neben Lurje unter anderem auch die Musiker Hampus Melin, Ilya Shneyveys und Emil Goldschmidt gehörten. Die Idee sei gewesen, einen festen Raum zu schaffen, in dem jiddische Musiker:innen zusammen jammen, singen, tanzen und einfach die Vielfalt der Kultur feiern können.

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Den Ort dafür fanden sie in der Bar Oblomov in der Lenaustraße. Ziemlich schnell hätten sich die Sessions dann aber rumgesprochen und seien seither immer packend voll. 2016 sei dann aus den Klezmer Sessions das Shtetl als feste Institution entstanden. Seither organisieren die Künstler:innen etwa auch ein jährliches Festival jiddischer Musik.

Mit der zunehmenden Popularität entstand allerdings ein unerwartetes Problem: „Es kommen viele Künstler, die nicht aus Deutschland stammen“, sagt Sasha Lurje, „und keiner kann Neukölln aussprechen.“ Außerdem sei die Welle jiddischer Musikkultur mittlerweile größer als Neukölln, es gibt Shtetl-Veranstaltungen etwa auch in Charlottenburg und Kreuzberg. Deswegen heißt das Shtetl jetzt Berlin, nicht mehr nur Neukölln.

Nun muss man auch über die Frage sprechen, die in der Öffentlichkeit heiß debattiert wird – Neukölln ist oft eher für Antisemitismus als für jüdische Kultur bekannt. Das spiegele allerdings nicht die Realität wider, sagt Sasha Lurje. „Es ist ein rassistisches Klischee, dass Menschen mit türkischem oder arabischem Hintergrund Juden hassen.“ Aus ihrer Sicht zeichne gerade den Norden von Neukölln aus, dass die Gegend sehr international sei.

Zudem störe sie die Gleichsetzung von Judentum und Israel: Das würde negieren, dass die jüdische Kultur seit Jahrhunderten wesentlicher Teil der europäischen Kultur ist. Lurje sagt: „Mein ganzes Leben lang war es für mich eine schwierige Frage, wie ich mich identifizieren soll: Als Jüdin, als russischsprechende Person in Lettland, als Lettin. Einer der Gründe, die mich in Berlin angezogen haben, ist dass ich hier einfach alles gleichzeitig sein kann.“

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