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Zeitzeugin Rahel Mann liest und diskutiert in der Ausstellung "Wir waren Nachbarn" im Rathaus Schöneberg.

© Wir waren Nachbarn

Die Nazi-Zeit versteckt im Bayerischen Viertel überlebt: Rahel Manns Schutzengel war eine Berliner Hauswartsfrau

Zeitzeugin Rahel Mann las bis ins hohe Alter im Rathaus Schöneberg aus dem Buch „Uns kriegt ihr nicht: Als Kinder versteckt - jüdische Überlebende erzählen“

Rahel Mann hat als Medizinerin und Psychotherapeutin in Deutschland gearbeitet und sie hat die Kabbala und die Thora in ihrer Wahlheimat Israel studiert. "Aus Neugier", betont sie, und doch scheint dieses Interesse nur ein weiteres Stück des roten Fadens zu sein, der ihr Leben durchzieht. "Ich habe mich immer in Gottes Hand gefühlt", sagt Rahel Mann. An ein Wunder grenzt es allemal, dass sie die Nazizeit in Berlin überleben konnte.

1937 wird sie in Berlin-Neukölln geboren, bald darauf zieht die Mutter mit dem Baby ins Bayerische Viertel. Eine Zwangsauflage der Nazis, die Juden in sogenannten Sternwohnungen unterbrachten, um sie dann - nach und nach - in Konzentrationslager zu transportieren. Irgendwann, 1941, stehen die Schergen vor der Tür, im dritten Stock der Starnberger Straße 2. Während ihre Mutter die Schreckensfahrt nach Sachsenhausen antreten muss, ist die vierjährige Tochter vorerst bei Bekannten in Sicherheit. "Solange es ging, wurde ich in verschiedenen Familien herumgereicht", erinnert sich Rahel Mann.

1944, als das kaum noch möglich war, erschien der Schutzengel in Gestalt von „Frau Vater“. Den Vornamen der Hauswartsfrau, die sie viele Monate im Keller versteckte, wusste Rahel Mann nicht mehr. Ihre Erscheinung aber vergaß sie nie: „So rund und dick und resolut.“ Mit ihr lernte sie in ihrem Verschlag lesen und schreiben, und manchmal, erinnert sich die Erwachsene an jene Zeit, „hat sie mich ganz fest gedrückt“. Geredet wurde nicht viel, „schon ein Flüstern oder gar Husten wäre ja lebensgefährlich gewesen“. Im Frühjahr 1945 wird die Achtjährige von den Russen befreit. „So nett“ seien die gewesen, hätten sie auf den Schoß genommen und ihr Bilder von den eigenen Familien gezeigt.

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Bei der Mutter, die seelisch und körperlich gebrochen aus Sachsenhausen zurückkehrt, findet Rahel Mann nicht den ersehnten Halt. Als „frühreif und sehr selbstständig“ charakterisiert sie sich selbst und versucht das Vergangene auf ihre Weise zu bewältigen. Während die Mutter über das Geschehen nicht sprechen will, liest die Tochter alles zum Thema Judenverfolgung und vertieft sich in Religionsgeschichte.

Am Haus Starnberger Straße 2 im Bayerischen Viertel in Berlin-Schöneberg erinnert eine Gedenktafel an Frieda Anna Vater.

© Markus Hesselmann

Nicht von ungefähr wählt sie nach dem Medizinstudium die Psychologie. „Die Arbeit mit meinen Patienten hat mir geholfen zu begreifen, wie Menschen mit Menschen umgehen“, sagt sie. Und vielleicht auch jene Bilder zu verarbeiten, die sich so tief in ihr Gehirn gegraben haben. Als Sechsjährige sah sie, hinter einer Gardine versteckt, wie eine jüdische Familie abgeholt wurde. Der Mann mit drei Kindern war schon im Wagen, aber die Frau mit ihrem Baby wollte nicht einsteigen. Da hätten ihr die Nazis das winzige Bündel aus dem Arm gerissen und es am Wagenschlag „zertrümmert“. Damals habe sie noch andere Gesichter hinter Fensterscheiben gesehen, und noch immer findet Rahel Renate Mann keine Antwort auf diese Fragen: „Warum sind alle stumm geblieben? Warum hat niemand geschrien?“

Die einstigen Seelenqualen hat sie in Gedichten ausgedrückt. „Wann, wann ist unser tosendes Gesterbe aus“, heißt es in einer Zeile. Woher hat diese Frau ihre Lebenskraft genommen? In Hassgefühlen hätte sie kaum wurzeln können. „Wir sollten nicht nur schauen, wo uns Wunden geschlagen wurden, sondern auch, wo uns geholfen wurde“, sagt Rahel Mann. Nach dem Krieg hat sie noch ein paar Jahre mit ihrer Mutter in der ehemaligen „Sternwohnung“ gelebt. Das gelbe Zeichen war verschwunden, aber die Silhouette hatte sich über die Jahre ins Holz gefressen. „Um so etwas hat sich in den fünfziger Jahren niemand Gedanken gemacht“, sagt sie und lächelt. Frau Vater, so könnte man sich vorstellen, wäre der Vergangenheit mit scharfen Putzmitteln zu Leibe gerückt. Aber die war fortgezogen.

Lange Jahre erinnerte keine Gedenktafel an der Starnberger Straße 2 an die beherzte Berlinerin, bis die Hausgemeinschaft - wie zuletzt häufiger im Bayerischen Viertel - sich zusammentat und eine Tafel stiftete. Jahrzehntelang hatte sich Rahel Mann so eine Erinnerung gewünscht. Und schließlich kam es im Mai 2016 doch noch dazu.

Rahel Mann selbst las von März 2014 bis Februar 2020 an jedem ersten Montag im Monat aus dem Buch „Uns kriegt ihr nicht: Als Kinder versteckt - jüdische Überlebende erzählen“ von Tina Hüttl, in dem sie auch ihre Geschichte erzählt. Die Lesung begann stets um 17.30 Uhr in der Ausstellungshalle der Schau „Wir waren Nachbarn. 152 Biographien jüdischer Zeitzeugen“. Nach der Lesung ging Rahel Mann stets auf die Fragen der Zuhörerinnen und Zuhörer ein, das war ihr besonders wichtig. Erst mit 82 Jahren hörte sie mit dem monatlichen Lesen und Diskutieren schließlich auf.

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