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Denksteinlegung an der Löcknitz-Grundschule

© Tagesspiegel/Sigrid Kneist

Die Mauer gegen das Vergessen: Stein für Stein die Erinnerung aufrechterhalten

Seit 28 Jahren bauen die Sechstklässler der Berliner Löcknitz-Grundschule die Gedenkmauer, um an die von den Nazis verfolgten und ermordeten Schöneberger Juden erinnern.

Auf dem Schulhof der Schöneberger Löcknitz-Grundschule wächst ein besonderes Denkmal. Seit 1995 legen die Sechstklässler der Schule Erinnerungssteine nieder für von den Nazis verfolgte und ermordete Schöneberger Juden. So entstand eine Mauer des Gedenkens, die schon an mehr als 1000 Menschen erinnert. Am Donnerstag kamen in einer Gedenkstunde 17 weitere Steine dazu.

Der Ort des Gedenkens könnte passender nicht sein. Auf dem heutigen Schulgelände stand einst eine große Synagoge. Im Bayerischen Viertel lebten Anfang der dreißiger Jahre rund 16.000 Juden. Die Synagoge Münchener Straße bildete das Zentrum für die jüdisch-traditionelle Gemeinde im Kiez, sie bot mehr als 800 Menschen Platz. In der Pogromnacht 1938 wurde das Gotteshaus kaum beschädigt, sondern erst bei den Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg. 1956 wurde das Gebäude abgerissen. Vor dem Schulhof am Eingang Münchener Straße steht ein Denkmal für die Synagoge.

Menschen, die man vergisst, sterben ein zweites Mal.

Jüdisches Sprichwort

Zu Beginn der Gedenkstunde zitierte Schulleiterin Sabine Staron ein jüdisches Sprichwort: „Menschen, die man vergisst, sterben ein zweites Mal.“ Das Schuljahr über haben sich die Schülerinnen und Schüler, die nach den Sommerferien auf die Oberschule wechseln, mit den Biografien der Menschen befasst.

Ein wichtiger Ort dafür ist die Ausstellung „Wir waren Nachbarn“ im Rathaus Schöneberg, dort werden Biografien der früheren jüdischen Bevölkerung des Bezirks Tempelhof-Schöneberg, dokumentiert. Sie besuchten die Blindenwerkstatt Otto Weidt und eine Synagoge. Die Beschäftigung mit jüdischem Leben beginnt an der Löcknitz-Schule, die dem bezirklichen Bündnis gegen Antisemitismus angehört, schon vom ersten Schuljahr an.

Die Sechstklässlerinnen haben den Stein für Steffi Mosessohn restauriert.

© Tagesspiegel/Sigrid Kneist

Bei dem Projekt können die Schülerinnen und Schüler sich aussuchen, an wen sie erinnern möchten. Sie suchen einen persönlichen Bezug. „Ich denke an Charlotte Goldstein, weil sie im selben Haus wohnte und denselben Vornamen trug wie ich“, sagte eine Schülerin. Es werden aber nicht nur neue Steine gelegt. Auch bereits verlegte Steine wurden restauriert, da die Schrift teilweise kaum noch leserlich war und die Erinnerung nicht verblassen sollte. „Mit dem Gedenken tragt ihr dazu bei, dass sich die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen“, sagte Rabbiner Boris Ronis. Rabbiner Walter Rothschild sprach auf Hebräisch und Aramäisch die Gebete.

In diesem Jahr arbeitete die Schule das erste Mal mit dem Projekt „Lebensmelodien“ zusammen. Dieses hat der aus Israel stammende Klarinettist Nur Ben Shalom mit Unterstützung des evangelischen Kirchenkreises Tempelhof-Schöneberg initiiert. Der Musiker möchte die Erinnerung wachhalten an Musik jüdischer Komponisten, die in der Nazizeit, im Angesicht des Holocaust, entstand oder gespielt wurde. Mit den Schülerinnen und Schülern hat er ein musikalisches Programm erarbeitet, das am Montag bereits in der Apostel-Paulus-Kirche zu hören war.

Die Blumen hat Judith Blumenhein über dem Stein für ihren Vater niedergelegt.

© Tagesspiegel/Sigrid Kneist

Vor Beginn der Gedenkveranstaltung steht Judith Blumenhein an der Mauer. Sie hält Sonnenblumen in der Hand und sucht nach dem Gedenkstein für ihren Vater Ernst-Alfred Blumenhein. Als sie den Stein, der schon vor etlichen Jahren gelegt wurde, gefunden hat, streicht sie mit den Fingern zart darüber und legt die Blumen nieder.

Vier Jahre alt war Judith Blumenhein, als die NS-Schergen ihren Vater festnahmen und ins KZ Sachsenhausen verschleppten. Ende Dezember 1938 wurde er wieder entlassen, war aber durch schwerste Erfrierungen und die Diphtherie, mit der sich er im KZ infiziert hatte, so geschwächt, dass er am Neujahrstag 1939 in Berlin starb. Seine Tochter Judith kommt stets zu der jährlichen Gedenkveranstaltung an der Löcknitz-Schule.

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