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Geht leider nicht immer „mit Links“: Arbeit bei gleichzeitiger Kinderbetreuung erfordert viel Flexibilität und Organisationstalent.

© Getty Images / Guido Mieth

Preiswürdig in Berlin: Kreuzberger Metallverarbeiter bindet Alleinerziehende als Fachkräfte ein

Berlin gilt als Hauptstadt der Singles – und der Alleinerziehenden. Erstmals wurde in Berlin nun der Preis „niellA“ für ein Unternehmen verliehen, das besonders attraktiv ist für alleinerziehende Angestellte.

Von Alix Faßmann

Hauptstadt der Alleinerziehenden, auch das ist Berlin in Deutschland. In Friedrichshain-Kreuzberg wurde jetzt ein neuer Preis verliehen. „niellA – Alleinerziehende im Blick“ heißt der erstmalige Unternehmenspreis und wurde an das alleinerziehenden-freundlichste Unternehmen des Bezirks verliehen. Und der Preisträger kommt aus einer Branche, die nichts mit Sozialberufen oder dergleichen zu tun hat.

„Die Alleinerziehenden fallen mir doch laufend aus“, beschreibt Stephan Felisiak, Geschäftsführer des Jobcenters Berlin Friedrichshain-Kreuzberg, die stigmatisierende Erfahrung, die Alleinerziehende immer wieder mit Arbeitgebern machen. „Mit diesem Preis wollten wir auf die positiven Seiten der Alleinerziehenden hinweisen. Und zu einem Perspektivwechsel animieren.“ Die Wortschöpfung „niellA“, rückwärtsgelesen „Allein“, möchte diese andere Seite symbolisieren.

Es ist 18 Uhr im „Nirgendwo“ in Friedrichshain, ein stillgelegter Lokschuppen, heute besonderer Veranstaltungsort mit hübschem Garten. Eine schwierige Uhrzeit für Alleinerziehende. Kita oder Hort sind vorbei, zu spät für eine Verabredung zum Spielen und der Babysitter hat keine Zeit. In einer Ecke des Gartens wartet „Micha“ aus Kreuzberg mit Bastelkram und Glitzerperlen als eherenamtliche Kinderbetreuung für den Abend. Er ist nicht umsonst gekommen, zwei Kinder begleiten ihre Mütter an diesem Abend.

Wohl kaum jemand ist kreativer, organisierter, flexibler und resilienter.

Pauline Potschka, Koordinierungsstelle für das Netzwerk Alleinerziehende Friedrichshain-Kreuzberg

„Häufig wird übersehen, dass ‚Vereinbarkeit‘ für Alleinerziehende noch einige andere Facetten hat als für Paarfamilien“, sagt Pauline Potschka von der Koordinierungsstelle für das Netzwerk Alleinerziehende Friedrichshain-Kreuzberg. „Dabei wäre es für jedes Unternehmen ein deutlicher Gewinn, Alleinerziehende in der Belegschaft zu wissen. Wohl kaum jemand ist kreativer, organisierter, flexibler und resilienter.

Geheimwaffe gegen Fachkräftemangel

Vor einem Jahr entstand die Idee für den Preis, als sich Pauline Potschka und Ulrike Spieler, Beauftragte für Chancengleichheit im Jobcenter Kreuzberg-Friedrichshain, zusammensetzten und überlegten, was sie im Rahmen der Aktionswochen „Menschen in Arbeit – Fachkräfte in den Regionen“ 2023 des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales organisieren können. „Familienfreundlichkeit scheint schon im Unternehmensportfolio als Geheimwaffe gegen den Fachkräftemangel angekommen zu sein. Nur Alleinerziehende werden immer noch vergessen“, sagt Pauline Potschka.

Mit dem Friedrichshain-Kreuzberger Unternehmerverein (FKU) und der Wirtschaftsförderung Friedrichshain-Kreuzberg fand man weitere Partner, die besonders bei der Ausschreibung und Bekanntmachung des neuen Preises in der Unternehmerwelt des Bezirks sehr hilfreich waren.

Schirmherrin des Preises ist Bezirksbürgermeisterin Clara Herrmann. An dem großen Abend der Preisverleihung musste sie sich allerdings von Stadträtin Annika Gerold vertreten lassen, da wichtige Haushaltsberatungen in der BVV anstanden. Aber andere wichtige Gäste kamen auch. Darunter Micha Klapp, Staatssekretärin in der Berliner Senatsverwaltung für Arbeit, Soziales, Gleichstellung, Integration, Vielfalt und Antidiskriminierung. Sie hätte sehr schnell zugesagt, als sie die Einladung erhielt. Die Nachricht im Sommer, dass nur jede fünfte Alleinerziehende sich eine Woche Urlaub leisten könne, fand sie „krass“. In der folgend vorbereiteten Rede erwähnte sie den Passus zu Alleinerziehenden im Koalitionsvertrag.

29,8
Prozent der Familien in Friedrichshain-Kreuzberg sind „Ein-Eltern-Familien“

Unternehmen aus Kreuzberg und Friedrichshain konnten sich online bewerben. Die Auswahl erfolgte durch eine Jury, bei der auch Senem Eser, Managerin für Personalwesen und selbst Alleinerziehende, mitentschied. Sie war die einzige, die sich als Alleinerziehende an dem Abend zu erkennen gab. Dabei steigt die Zahl der Alleinerziehenden seit Jahren: Im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg sind 29,8 Prozent aller Familien „Ein-Eltern-Familien“.

Jury-Mitglied gewährt privaten Einblick

Eine Vermutung zur mangelnden Sichtbarkeit legt Esers Gespräch auf der Bühne nahe. Sie kämpft plötzlich mit den Tränen, als sie von der Trennung und ihrem kleinen Sohn erzählt. Denn die Situation von Alleinerziehenden hat immer auch eine sehr private und emotionale Ebene. Als es um die strukturelle und politische Ebene ihrer Situation geht, festigt sich Esers Stimme und sie ist kämpferisch. „Als Betroffene kenne ich die immense Bedeutung von Unterstützung. Es war mir ein Herzensanliegen, aktiv an diesem Auswahlprozess teilzunehmen“, sagt Eser, die aktuell immer noch nach einem Job im Personalwesen sucht. „Leider werden Alleinerziehende oft unterschätzt und in Bewerbungsverfahren benachteiligt.“

Stephan Felisiak, Chef des Jobcenters Berlin Friedrichshain-Kreuzberg (links) überreichte den ersten „niellA“ an Henning von der Osten von der Geißler & Schambach GmbH.

© niellA

Der erstmalige Preisträger des niellA-Unternehmenspreises sei ein „Leuchturm der alleinerziehend-freundlichen Unternehmenskultur“, sagte Laudator Stephan Felisiak. Die Geißler & Schambach GmbH setzte sich in einer Spitzengruppe von drei Bewerbern schlussendlich durch und überraschte alle mit seiner Branche.

Kein hipp-achtsames Jungunternehmen mit Feel-Good-Manager wurde also prämiert, der Preisträger kommt aus der produzierenden Industrie. Mit Sitz in der Prinzenstraße, mitten in Kreuzberg, fertigt das mittelständische Unternehmen seit 1939 feinste Metallteile für die Medizintechnik- und Automobilindustrie. Großkunden wie Volkswagen, Siemens oder Mercedes gehören zu den Abnehmern ihrer Produktion.

Als Geschäftsführer Henning von der Osten die kleine Trophäe und seine Personalmanagerin Beatrice Compart die Urkunde entgegennimmt, betont er: „Alleinerziehende sind ein wesentlicher Motor unserer Unternehmenskultur. Sie bereichern unser Unternehmen mit frischen Perspektiven.“

Von seinen 65 MitarbeiterInnen sind aktuell fünf alleinerziehend. Es seien sowohl Frauen in der Produktion als auch ein Vater, der als Ingenieur im Betrieb arbeitet. Konkret hilft das Unternehmen vor allem mit extrem flexiblen Arbeitszeitmodellen, die teilweise sogar von Monat zu Monat neu angepasst werden. Das sei administrativ ein erheblicher Mehraufwand. Der lohne sich, meint von der Osten. „Wir wollen Mitarbeiter gewinnen, die auch bleiben. Der Status alleinerziehend ist dabei nicht entscheidend.“ Das Signal einer solchen Unternehmenskultur kommt gut an. Mittlerweile arbeiten 50 Prozent der Belegschaft in flexiblen Arbeitszeitmodellen.

Zur Preisverleihung begleiten wollte ihn dennoch keiner seiner alleinerziehenden Mitarbeiter. „Man wollte sich hier nicht so öffentlich zeigen“, berichtet der Chef. Dafür sei das Stigma womöglich noch zu groß.

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