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Feuertaufe. Anne Helm (35) hat im Juni 2020 das Amt der Fraktionsvorsitzenden der Linken im Berliner Abgeordnetenhaus übernommen.

© imago images/Uwe Steinert

Berliner Linken-Fraktionsvorsitzende über die Polizei: „Wir haben in Behörden nach wie vor eine mangelhafte Fehlerkultur“

Anne Helm spricht über Enteignungen, Versäumnisse in den Reihen der Polizei und wie es war, inmitten einer Pandemie Fraktionsvorsitzende der Linken zu werden. 

Von Sonja Wurtscheid

Sie haben als Schauspielerin und Synchronsprecherin gearbeitet. Welche Fähigkeiten aus diesen Berufen kommen Ihnen jetzt als Politikerin zugute?
Zur Schauspielerei gehören eine ganze Menge Einfühlungsvermögen und auch mal die Perspektive einer Figur einzunehmen, die einem nicht in erster Linie sympathisch ist. Das kann hilfreich sein, wenn es gilt, Interessen auszugleichen.

Welches Thema würden Sie aus dem Bauch heraus als wichtigstes im Wahlkampf bezeichnen?
Das wichtigste Thema ist nach wie vor die Mietenpolitik. Das ist die soziale Frage. Viele Menschen befürchten, ihre Wohnung nicht halten zu können, weil sie sich die Mieten nicht mehr leisten können.

Jüngst haben genug Menschen das Volksbegehren „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ unterzeichnet, am 26. September steht der Volksentscheid dazu an. Finden Sie, dass solche Initiativen aus der Gesellschaft ausreichen, um den Wohnungsmarkt zu verändern oder braucht es auch mehr Anstrengung von der Politik?
Selbstverständlich ist die Politik hier in der Verantwortung, regulierend einzugreifen. Die Initiativen aus der Stadtgesellschaft zeigen uns, dass es ein großes Erfordernis für politisches Handeln gibt. Das hilft uns in der Politik, bei dem Thema den Druck aufrechtzuerhalten. Wenn der Volksentscheid erfolgreich ist, was ich persönlich sehr hoffe, dann ist das der Auftrag an uns, ein Gesetz zu erarbeiten und zu verabschieden.

Nachdem das Bundesverfassungsgericht den Berliner Mietendeckel gekippt hatte, mussten viele Menschen ihre Mietrückstände zurückzahlen – und das mitten in der Corona-Krise. Wie wollen Sie sich weiter für diese Menschen und einen bundesweiten Mietendeckel einsetzen?
Ich denke, es sollte bundesweit ein Mietendeckel für angespannte Wohnlagen eingeführt werden. Oder aber es sollte mindestens eine Öffnungsklausel geben, damit wir als Land Berlin tätig werden können – weil die Notlage da ist.

Nach dem Aus für den Mietendeckel auf Landesebene wollte Berlin sich im Bundesrat mit anderen Ländern zusammentun und für einen Mietendeckel auf Bundesebene kämpfen. Warum haben Sie eine solche Initiative noch nicht eingereicht?
Die Initiative ist noch nicht eingeführt, aber es laufen Gespräche. Wir wollen daraus keine Haltungsfrage machen, sondern Mehrheiten organisieren. Da muss man vorher Gespräche führen und schauen, welche Variante die klügste ist, damit das auch Erfolg hat.

Der Berliner Senat hat neue Hürden gesetzt für die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen. Aber schon die Vorgängerregelung, der Milieuschutz, wurde als unwirksam kritisiert. Glauben Sie, dass die neue Rechtsverordnung verhindern wird, dass immer mehr Mietwohnungen in Berlin verschwinden?
Zunächst mal ist Berlin das erste Land, das so eine flächendeckende Regelung für einen angespannten Mietmarkt trifft. Das ist schon mal ein ganz großer Schritt. Die Erfahrung zeigt aber, dass es immer wieder auch Versuche gibt, Schlupflöcher zu nutzen. Wenn wir neue Regulierungen vornehmen, müssen sich diese in der Praxis bewähren. Aber der Schritt erleichtert es auf jeden Fall, Umwandlungen von Miet- in Eigentumswohnungen zu verhindern.

Angenommen, die Berlinerinnen und Berliner stimmen im Volksentscheid mehrheitlich für „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“. Würden Sie dann auch in Betracht ziehen, noch weitere Wohnungskonzerne zu vergesellschaften?
Es geht, anders als der griffige Name vielleicht vermuten lässt, nicht nur um die „Deutsche Wohnen“, sondern um gewinnorientierte Immobilienkonzerne, die mehr als 3000 Wohnungen in Berlin haben. Das wäre ein gigantischer Schritt. Das würde den Mietmarkt in Berlin nachhaltig verändern und würde uns unserem Ziel näherbringen, die Hälfte der Wohnungen in Berlin gemeinwohlorientiert zu betreiben.

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Wäre das im Immobilienbereich der Startschuss für eine Reihe von Enteignungen?
Ich glaube, das könnte ein Modell für andere Städte mit angespanntem Wohnungsmarkt sein, um diesen nachhaltig zu regulieren. Dafür bedarf es aber auch zukünftig weiterer Instrumente. Aber es wäre das erste Mal, dass eine Vergesellschaftung nach Artikel 15 Grundgesetz angewandt werden würde und das wäre schon revolutionär.

Würde gern mehr als Krisenmanagement machen: Linken-Fraktionsvorsitzende Anne Helm.
Würde gern mehr als Krisenmanagement machen: Linken-Fraktionsvorsitzende Anne Helm.

© Doris Spiekermann-Klaas

Kommen wir zur Berliner Wahl. Haben Sie Lust auf Opposition?
Nicht wirklich. Also das kann ich auch und es ist sicher einfacher, nur zu fordern. Aber wir haben noch eine ganze Menge vor und ich glaube, es wäre für die Stadt wichtig, dass wir weiterregieren.

Die SPD ist etwa beim Thema Mietenpolitik, Stichwort Vergesellschaftung, weit von der Linken entfernt. Glauben Sie trotzdem an eine Neuauflage von Rot-Rot-Grün?
Warten wir erst mal das Ergebnis ab. Wir kämpfen für einen Regierenden Bürgermeister Klaus Lederer und für Mehrheiten für unsere Politik. Wenn ich mich umschaue, mit wem wir uns am ehesten vorstellen könnten, diese Politik umzusetzen, dann sind es unsere bisherigen Partner:innen. Ich denke, dass sich mit anderen da Gespräche nicht lohnen würden.

Sie sind jetzt seit etwas mehr als einem Jahr Fraktionsvorsitzende. Was waren die größten Herausforderungen in diesem durch Corona doch besonderen Jahr?
Politisch gesehen war die größte Herausforderung alles rund um das Management der Corona-Krise – zum Beispiel, eine parlamentarische Beteiligung zu organisieren. Es war ja eine absolute Ausnahmesituation, dass einschneidende Maßnahmen von den Regierungen beschlossen wurden und nicht von den Parlamenten. Aus meiner persönlichen Erfahrung war es aber das Schwierigste, im Blick zu behalten, welche Auswirkungen die beschlossenen Maßnahmen auf einzelne Menschen haben. Die Maßnahmen treffen ja Menschen je nach Lebenssituation ganz unterschiedlich.

Würden Sie den Job der Fraktionsvorsitzenden noch einmal machen?
Ja. Gerade, weil ich sehr gerne mehr als Krisenmanagement machen möchte. Das war jetzt eine Feuertaufe.

Wie würden Sie Neuwähler:innen Ihren Job erklären?
Ich sehe mich ein bisschen als Managerin zwischen den verschiedenen Ebenen, sprich zwischen dem Senat und meiner Fraktion sowie der Partei und allen möglichen Interessen, Organisationen und Menschen in dieser Stadt. Als Fraktionsvorsitzende muss man einen größeren Überblick haben und daran denken, wen die Entscheidungen noch betreffen. Oder worauf die Entscheidung wiederum Einfluss hat, wer sich auf den Schlips getreten fühlt.

Welche menschlichen Fähigkeiten braucht es dafür?
Diplomatische Fähigkeiten braucht man auf jeden Fall. Gerade Zuhören ist wahnsinnig wichtig. Zur Fähigkeit, gut führen zu können, gehört auch eine Menge Empathie – also auch mal wahrzunehmen, wo einem nichts erzählt wird, und dann nachzufragen. Meist ist es so, dass nicht die stärksten und die lautesten Lobbys diejenigen sind, auf die man hören sollte. Die haben es oft am leichtesten. Aber es gibt ganz viele, die diesen Weg nicht finden, die es aber zu beachten gilt.

Sie sind Sprecherin Ihrer Partei für Strategien gegen Rechtsextremismus. Am 1. August gab es Ausschreitungen bei verbotenen Protesten der Querdenker. Sind Coronaleugner die neue Rechten?
Zumindest kann man sagen, dass Rechte eine Menge Mobilisierungspotenzial und Anschluss an neue Milieus gefunden haben. Ich glaube, es ist verengt, zu sagen, dass diese Bewegung die neue Rechte ist. Die Bewegung wird möglicherweise verschwinden, wenn wir es schaffen, diese Krise zu überwinden. Aber das Potenzial, das bleibt. Wir haben gesehen, dass demokratiefeindliche, menschenfeindliche und antisemitische Stereotype abrufbar waren und sich das in einer Krisensituation Bahn bricht. Ich glaube, viele von uns kennen Menschen, die sich in so einer Richtung äußern und von denen man es nicht gedacht hat. Es macht mir Sorge, wie porös hier Grenzen geworden sind.

Nach den unerlaubten Demos in Berlin und den Gewalttätigkeiten der Querdenker-Anhänger wurden Forderungen laut, einzelne Organisationen zu verbieten. Was sagen Sie dazu?
Ich hatte eher den Eindruck, dass das eher lose organisiert war, obwohl natürlich sehr stark mobilisiert wurde. Es gibt Dinge, gegen die man durchaus auch repressiv vorgehen muss, etwa wenn sich Leute durch solche Organisationen bereichern. Grundsätzlich denke ich aber, dass das Problem, nämlich das Potenzial in der Gesellschaft, sich schlecht durch Verbote lösen lässt. Gerade bei so einem breiten Mobilisierungspotenzial mit sehr unterschiedlichen Milieus sind das keine verfestigten Strukturen, denen man wie bei einem Verein mit einem Verbot beikommen kann. Wir brauchen andere Instrumente als nur Repression.

Welche?
Ich sehe ein Verfolgungsdefizit bei Hassdelikten im Netz. Da wird oft nicht wahrgenommen, dass es Tätergemeinschaften gibt. So etwas geht an die Staatsanwaltschaften, wo die jeweiligen Täter wohnhaft sind, aber die Verfahren werden nicht zusammengeführt. Das ist ein Problem. Dadurch kann man Strukturen überhaupt nicht erkennen. Eine einzelne Beleidigung ist etwas völlig anderes als ein organisierter Shitstorm, der Menschen aus dem Netz drängen will.

Mittlerweile sind in der Berliner Polizei drei Fälle von rechtsextremen Chatgruppen bekannt geworden; in Neukölln gab es antisemitische und rechtsextreme Anschläge. Warum passiert so etwas noch immer?
Zum einen haben wir in den Behörden nach wie vor eine mangelhafte Fehlerkultur. Das ist seit der versuchten Aufarbeitung des NSU ein Thema und hat sich meiner Erfahrung nach wenig geändert.

Behörden? Sie meinen die Polizei?
Ich meine da sogar in erster Linie die Polizei. Da gibt es wenig Verständnis dafür, dass Aufklärung und Transparenz zu mehr Vertrauen führt. Das zweite ist eine Sensibilisierung dafür, dass Straftaten mit einem politisch motivierten Hintergrund anders zu behandeln sind als eine Sachbeschädigung aus simplem Vandalismus oder Eigentumsdelikte aus Habgier. Wir haben oft erlebt, dass Verfahren eingestellt oder nicht zusammengeführt wurden, dass Spuren nicht aufgenommen und Betroffene bei der 110 abgewiesen wurden – weil die Delikte nichtig wirkten. Aber im Zusammenhang hatten sie den Zweck, Menschen einzuschüchtern.

Werfen Sie der Polizei vor, in Neukölln den Ernst der Lage nicht erkannt zu haben?
Ja. Auf jeden Fall zu spät.

Das Gespräch führte Sonja Wurtscheid.

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