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Inselbuch Berlin

© Tagesspiegel

Zum Schmökern, Träumen und Entdecken: Neues Buch über Berlins wundervolle Inselwelt

Inseln sind Sehnsuchtsorte, in Berlin gibt es davon über einhundert. Tagesspiegel-Chefredakteur Lorenz Maroldt und das Checkpoint-Team stellen Ihnen ihre Lieblingsorte vor.

Die Kapuze im Nacken, die Nase im Wind. Eine Brise streicht durchs Haar. Junge Wellen legen sich an der nahen Bucht in den Sand, andere brechen am Steg, wo Zappen und Enten sich dahintreiben lassen. Eine Fähre legt ab, Möwenschreie vor Wolkenbergen, ungeduldig klappern die Fallen am Mast einer Yacht.

In der Luft liegt der Duft von salzigen Pommes, ein Angler knirscht wackelnd auf seinem Fahrrad heran. Da sticht die Sonne durchs Grau: Das Wasser glitzert, es wird warm auf der Haut.

Ein Tag im Hafen von Hiddensee? Auf Rügen oder am Darß? Am Südstrand von Fehmarn, auf Usedom? Oder sogar auf Mallorca? So könnte es sein. Aber wir haben uns nicht in Züge gequetscht, stundenlang im Stau gesteckt oder am BER eingecheckt.

Nein, wir sind in Berlin geblieben: die ersten warmen Tage auf Pichelswerder, Sonnenbaden am Sandstrand von Valentinswerder, herbstliche Paddeltouren zum Nixenwall im Seddinsee, ein Winterspaziergang auf der Spreeinsel, der Blick vom imposanten Grunewaldturm auf Schwanenwerder – willkommen in unserer wundervollen Inselwelt!

Berlins Ur-Zentren wurden auf Inseln gebaut

Berlin ist am Wasser gebaut: an Havel, Dahme und Spree, an Kanälen und dutzenden Seen, an Teichen, Pfuhlen und Weihern, an Fließen und Gräben. Nur in Norwegen sind die Gewässer klarer als der Tegeler See. Von Berlin aus kommt man mit der eigenen Yacht nach New York. Es gibt hier Häfen und Schleusen und hunderte Brücken. Und Inseln, so viele Inseln! Etliche winzig klein, dass es nicht mal zum Punkt auf dem Stadtplan reicht, geschweige denn zu einem Namen; andere so riesig, dass Anfang und Ende im Stadtbild verschwimmen.

Gute Laune auf dem Kleinen Seddinwall.
Gute Laune auf dem Kleinen Seddinwall.

© Tagesspiegel

Die drei frühen Zentren Berlins wurden auf Inseln gegründet: Alt-Cölln inmitten der Spree, Köpenick im Südosten, Spandau im Westen. Alles Altstadtinseln, bis heute. Früher ließen sich die Siedlungen so leichter gegen Angreifer halten.

Viele weitere Inseln dienten im Laufe der Zeit der Abwehr von Eroberern, die mit Schiffen über die Flüsse kamen, sie tragen den „Wall“ deshalb schon im Namen: die drei Rohrwall-Inseln, der Dommelwall, der Seddinwall, der Weidenwall, der Zeuthener Wall, der Schilfwall, schließlich der Kleine Wall und der Große, alle an strategisch wichtigen Orten gelegen.

Die Stadt der Liebesinseln

Ein Dutzend verschiedene „Werder“ erheben sich aus den Berliner Gewässern, Lindwerder zweimal, auch ein „Werderchen“ gibt es. Zwei Inseln sind nach Königin Luise benannt, zwei weitere heißen „Bruch“. Gleich drei Liebesinseln sind über die Stadt verteilt – was sie neben dem Namen eint: Für Liebespaare sind sie eher nicht zu empfehlen.

Mit der Fähre auf dem Weg nach Lindwerder
Mit der Fähre auf dem Weg nach Lindwerder

© Lorenz Maroldt/Tagesspiegel

Es gibt in Berlin berühmte Inseln, über die Romane geschrieben wurden, wie die Pfaueninsel von Thomas Hettche. Es gibt Inseln zum Wandern wie den Schmöckwitzer Werder, zum Baden wie im Wannsee, zum Träumen wie auf Lindwerder, zum Feiern wie auf der Insel der Jugend, zum Wohnen wie auf der Humboldtinsel im Tegeler Hafen. Es gibt naturgeschützte Inseln, die nicht betreten werden dürfen, wie den Zeuthener Wall, und manche Insulaner schützen sich vor zu vielen Besuchern mit Schildern wie „Anschwimmen verboten“.

Es gibt private Inseln wie Hasselwerder, Segelclubinseln wie den Großen Rohrwall, Kleingartenparadiese wie die Baumgarteninsel. Es gibt Schlossinseln und Museumsinseln, Industrieinseln und Stadtinseln – und sogar eine Schatzinsel, auf der Kleinkriminelle ihre Beute versteckten. Auf anderen Inseln versteckten sich flüchtige Brandstifter und Räuber selbst vor der Polizei. Und es gibt eine Berliner Insel, auf der ein später berühmt gewordener Raumfahrtpionier mit Raketen experimentierte.

Ankerplatz bei Schmöckwitz.
Ankerplatz bei Schmöckwitz.

© Lorenz Maroldt

Es gibt Inseln aus Schlamm, Kies und Sand, andere aus Schlacke und Schrott. Hier ist das Röhricht am Ufer rundum mit Wellenbrechern vor den Wogen der Ausflugsdampfer und Motoryachten geschützt, dort ragen wilde Stege in den See. Viele Inseln bestehen aus fruchtbarer Erde, manche wurden künstlich vergrößert, andere sind natürlich erodiert.

Und eine ist versunken: „Betreten verboten“ heißt es auf einem Schild, das an den Tiefwerder Wiesen mitten im Wasser steht. Vor vielen Jahren versuchte man hier im Faulen See, Land zu gewinnen, und so wurde mutig aufgeschüttet. Die Natur wollte es anders, die Insel ging unter, und 1,3 Millionen Euro waren gleich mit versenkt.

Die Möwen steh’n auf Berlin

Jede Insel hat ihre eigene Geschichte. Aber wie viele sind es denn nun? Da haben sich schon manche geirrt. Der Berlin-Chronist J. G. A. Ludwig Helling stellte 1830 fest: „Tegelscher See, ziemlich großer See bei ebengenanntem Dorfe, der mit der Havel in offener Verbindung steht und 3 kleine Inseln hat.“ Tatsächlich waren es damals schon neun. Also sind es für ganz Berlin eher dreißig, wie mancherorts zu lesen ist? Vierzig, wie andere sagen? Oder doch fünfzig? Vorab schon mal das: Es sind mehr, viel mehr.

Auf die Baumgarteninsel gegenüber der Altstadt von Köpenick geht’s für die Pächter der Kleingärten nur mit dem eigenen Kahn.
Auf die Baumgarteninsel gegenüber der Altstadt von Köpenick geht’s für die Pächter der Kleingärten nur mit dem eigenen Kahn.

© Lorenz Maroldt/Tagesspiegel

Außer Konkurrenz läuft die „Rote Insel“ – sie liegt im Schöneberger Häusermeer und ist umschlossen von den Gleisen der Bahn. „Rot“ wurde die Gegend aus politischen Gründen genannt, und „Insel“, weil ihr Süden nur über Brücken zu erreichen ist. Wer im dortigen „Inselnest“ abstürzt, mag schwanken, aber kommt trockenen Fußes nach Hause.

Das Tempelhofer Feld auf dem alten Flughafengelände vermittelt ebenfalls Inselgefühle – nur dass dort statt Wasser der Straßenverkehr rundherum fließt, wenn auch zumeist wegen des chronischen Staus so träge und zäh wie die Spree durch Berlin. Eine ganz andere Art Insel haben die Möwen von Mitte für sich entdeckt: Sie liegt auf einer Shopping-Mall, dem Alexa am Alexanderplatz. Hoch über der Hektik der Stadt sind die Vögel hier ungestört: Sie etablierten auf dem kiesbedeckten Dach die größte Brutinsel Berlins.

Auch der „Insulaner“ zählt natürlich nicht mit: Der über die Stadtgrenzen hinaus bekannte Trümmerberg, nach dem Krieg aus Schutt aufgetürmt und mit Weiden, Pappeln und Buchen bepflanzt, steht eindeutig auf Festland. Seinen Namen verdankt der künstliche Hügel einem Ideenwettbewerb unter Schulen. Die Sieger orientierten sich am gleichnamigen Kabarett-Ensemble, das sich, gegründet während der Blockade 1948, wiederum auf die Lage West-Berlins bezog – eine Insel im roten Meer.

Auch Tucholsky war Insulaner

Ein berühmter Autor und Kabarettist ist aber tatsächlich ein echter Berlin-Insulaner: Kurt Tucholskys erste Adresse war die Lübecker Straße 13 in Moabit. In Moabit? Ja, auch Moabit ist eine Insel, von der Spree sowie drei großen Kanälen umschlossen. Die Insel heißt auch ein Gedicht von Tucholsky: „Wir treiben fort. / In das Gerinsel / blick ich zurück. / Du gabst auf einer kleinen Insel / ein kleines Stundenglück.“

Anfahrt auf Scharfenberg. Die Insel ist berühmt für ihre Schulfarm.
Anfahrt auf Scharfenberg. Die Insel ist berühmt für ihre Schulfarm.

© Tagesspiegel

Klein ist Moabit allerdings nicht. Doch es gibt noch größere Inseln in Berlin, auch wenn die kaum jemand als solche wahrnimmt. Mal genau hingeschaut: Die Spree, der Britzer Verbindungskanal, der Neuköllner Schifffahrtskanal, der Landwehrkanal und der Flutgraben machen tatsächlich aus ganz Treptow eine Insel; verfolgt man dazu den Nördlichen und den Südlichen Heidekampgraben, besteht Treptow sogar aus zwei Inseln.

Der Teltowkanal wiederum macht zusammen mit dem eben bereits erwähnten Britzer Verbindungskanal und der Spree aus Niederschöneweide, Johannisthal und Adlershof eine Insel, der Gosener Kanal aus Köpenick-Ost und Müggelheim eine weitere.

Kälberwerder statt Karibik

Wer vom Westhafen aus auf dem Kanal Richtung Spree bis zur Havel schippert, dort auf Nordkurs bis zur Wasserstadt geht und über den Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal zurück bis zum Westhafen fährt, hat achtzehn Brücken sowie zwei Schleusen passiert – und ohne Landberührung Charlottenburg-Nord, die Siemensstadt sowie Haselhorst auf dem Wasser umrundet.

Inselbuch Berlin
Inselbuch Berlin

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Und der Landwehrkanal umschließt mit der Spree, die er an der Lohmühleninsel verlässt und mit der er sich an der Mierendorff-Insel wieder vereint, ganz Kreuzberg, die zentrale Mitte, Tiergarten mit der Siegessäule, das Hansaviertel sowie einen Teil von Charlottenburg zu einer weiteren Insel inmitten der Stadt.

Wer noch genauer hinschaut, entdeckt auch die kleinen und kleinsten Inseln Berlins, die oft zwar Bäume und Sträucher tragen, aber meist keinen Namen. Fast überall sind sie zu finden: acht im Tiergarten, außer den nach Luise und Rousseau benannten, sieben im Neuen See, sieben auch im oberen Seddinsee bei den Gosener Wiesen, deren Gräben und Ströme selbst sieben sumpfige Inseln umschließen.

Inselbuch Berlin
Inselbuch Berlin

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Drei im Schlossgarten Charlottenburg neben der zweiten Luiseninsel, drei rund um die Zitadelle Spandau, drei im Südpark von Spandau, drei rund um den Entenwall und vor dem Hafen von Rahnsdorf

Zwei sind’s im Steglitzer Fontänenteich, zwei im Englischen Garten, zwei im Hermsdorfer See und zwei im Obersee von Hohenschönhausen. Es gibt je eine Insel im Halensee, im Mahlsdorfer Habermannsee, im Borkenheider Teich von Marzahn, im Rohrbruchteich Spandau, im großen Regenrückhaltebecken an der Forckenbeckstraße, im Karpfenteich an der Wuhle, im Karpfenteich im Spandauer Forst, im Stadtparksee Lichtenberg, im Jungfernheideteich, im Hubertussee von Charlottenburg und im Hubertussee in Hessenwinkel, im Herthasee, im Borkheider Teich, am Walloch und eine am Bauersee, gleich bei Neu-Helgoland.

Klein-Venedig an der Spree

Die Kleingartenanlage „Klein Venedig“ im Allende-Viertel liegt nicht auf einer Insel, „Klein Venedig“ hinterm Stößensee schon. Die Wohnsiedlung „Neu-Venedig“ im einstigen Sumpf von Wilhelmshagen an der Müggelspree ist von Lagunen und römisch nummerierten Kanälen durchzogen und kommt so auf zehn eigene Inseln mit dreizehn Brücken.

Abendstimmung auf Reiswerder. Die Insel hat ein eigenes Rathaus.
Abendstimmung auf Reiswerder. Die Insel hat ein eigenes Rathaus.

© Dunja Berndorff

Im Südsee im Britzer Garten („Keine Hunde, keine Räder“) ist keine Insel zu finden; im Hauptsee sind’s gleich ein Dutzend: zehn im Feuchtbiotop, eine gegenüber vom Glückspavillon, und eine trägt sogar einen Namen: Es ist eine der drei „Liebesinseln“ Berlins. Auf ihr steht im Gestrüpp versteckt eine Sonnenlade, ein steinernes Miniaturhaus mit Loch in der Wand, durch das zur Wintersonnenwende ein goldener Strahl fällt.

Es gibt tatsächlich immer wieder neue Inseln zu entdecken – und Inseln immer wieder neu zu entdecken. Aber wie viele sind es denn nun? Berlins Behörden jedenfalls wissen es nicht. Die Stadtentwicklungsverwaltung verwies schon vor Jahren ahnungslos an die Umweltverwaltung, die ebenso ahnungslos ans Amt für Statistik – das wiederum zurück an die Stadtentwicklungsverwaltung. Berliner Inselpingpong der besonderen Art. Einen zentralen Inselbeauftragten gibt es also nicht. Mal ist der Bezirk zuständig, mal das Land, mal der Bund.

Aber es gibt Derk Ehlert, den Wildtierbeauftragten des Landes, und der weiß fast alles, auch über die Berliner Inseln – denn egal, wem sie offiziell gehören: Viele von ihnen sind fest in der Hand von Bisamratten, Bibern und Blesshühnern, von Waschbären, Wildschweinen und Schwarzmilanen, von Habichten, Eisvögeln und Prachttauchern, Füchsen, Kormoranen und Nachtigallen, Spechten, Kleibern und Meisen. Sogar ein Seeadler hat sich auf einer der Berliner Inseln mal wohlgefühlt.

Inseln sind Sehnsuchtsorte. Wer sie betrachtet oder sich auf dem Wasser nähert, spürt ihre Anziehungskraft. Wer sie betritt, wird verzaubert auf mystische Art. „Was kümmert mich der Schiffbruch der Welt, ich weiß von nichts, als meiner seligen Insel“, schrieb Hölderlin. In Berlin rollt die Natur ihnen einen Seerosenteppich aus.

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